Mit Kintsugi werden aus Scherben Schönheiten
Scherben bringen bisweilen Glück und mit Kintsugi noch mehr Schönheit
Mit Gold reparieren
Die Übersetzung des japanischen Wortes Kintsugi lautet: Mit Gold reparieren. Die Scherben von zu Bruch gegangenen Gegenständen aus Porzellan oder Keramik werden traditionell mit Urushi, einer Art Lack, der aus dem Saft des Urushi-Baums gewonnen wird, wieder zusammengefügt.
Die Bruchstellen werden anschließend mit Staub von Gold, Silber oder Messing sichtbar gemacht und verleihen dem kaputten Gegenstand einen besonderen ästhetischen Reiz,
Vom Wert der Dinge
Was auf den ersten Blick wie eine profane Do-it-yourself-Methode klingt, eröffnet auf den zweiten Blick einen faszinierenden Einblick in eine tiefgründige Betrachtungsweise des Wertes von Gegenständen.
Schon der Anblick einer Schale aus Keramik, Porzellan oder Holz, deren Herstellung besondere Fähigkeiten erfordert hat, kann der erste Teil des Genusses einer Portion Reis, einer Suppe oder eines Tee darstellen.
Das Auge ist und trinkt zuerst
Der Kenner der japanischen Teezeremonie ist damit vertraut, dass zunächst die Teeschale sorgfältig betrachtet wird. Auf diese Weise ehrt man den Handwerker und/oder Künstler, der die Teeschale geschaffen hat.
Japanische Erzählungen aus früheren Jahrhunderten, die dazu dienen, die Wertschätzung für die Herstellung von handwerklichen Gegenständen zu erhöhen, erzählen von einem noblen Mann, dem nichts so wichtig war, wie die Schönheit einer besonderen Teeschalen und von seinem großen Wunsch, dass diese Teeschalen von seinen Besuchern ebenso geschätzt würde.
Eines Tages lud er den berühmtesten Teemeister des Landes ein, um ihm den Tee in dieser außergewöhnlich schönen Teeschale zu servieren.
Der Teemeister äußerte jedoch mit keinem Wort eine Anerkennung für die Teeschale. Daraufhin zerschmetterte der Gastgeber wütend die Teeschale, die in Scherben zerbrach.
Anwesende, die das beobachteten, sammelten die Scherben ein und ließen sie aufwändig reparieren und servierten dem berühmten Teezeremonienmeister nochmals Tee in der restaurierten Teeschale, worauf dieser ausrief: „Nun ist diese Schale prachtvoll“.
Den Bruch nicht vertuschen
Die Betonung der Bruchstellen eines Gegenstandes mit Gold oder Silber möchte nicht vertuschen, sondern auf die Geschichte des Objektes hinweisen.
Je nach verwendeten Materialien, sind die Gegenstände weiterhin zum Essen oder Trinken geeignet oder sie dienen fortan ausschließlich der Schönheit, weil möglicherweise Materialien verwendet werden, die nicht lebensmittelecht sind.
Bruchstellen oder Zerstörungen nicht mehr zu übertünchen ist seit langer Zeit ein Trend in der Restaurierung von historischen Bauwerken. Sie erhalten damit eine eigene Ästhetik und werden zu Zeitzeugen.
Die Freude an Bruchstellen lässt sich auf viele Bereiche übertragen. So manche Freundschaft übersteht auch einen Bruch und gewinnt dadurch.
Menschen mit Bruchstellen sind meist die interessanteren Gesprächspartner.
Der besondere Baumsaft: Urushi
Zum Reparieren von Porzellan oder Keramik wird in der japanischen Kintsugi Tradition der Saft von Urushi-Bäumen verwendet. Eine Reparatur mit aufbereitetem Urushi-Saft kann aufgrund der mehrfach erforderlichen Trocknungszeiten, zwei bis drei Monate in Anspruch nehmen.
Filtration von japanischem Lack-Urushi © Magdalena Kozar / Alamy Stock Foto
Lohnt sich der Aufwand?
Kommt auf die Einstellung an. Nicht wenige Menschen besitzen eine Schachtel in der sie die Schalen eines zerbrochenen Gegenstandes aufbewahren, von dem sie sich nicht trennen mögen, da viele wertvolle Erinnerungen damit verbunden sind.
Mit einer Kintsugi-Reparatur erhalten diese emotionalen Kostbarkeiten ein neues Leben.
Kintsugi findet auch bei Laien immer mehr Anhänger. Menschen, denen es Spaß macht, etwas wieder zusammenzufügen und denen das Hantieren mit kleinen Spaten, Messern und Pinseln Freude macht.
Da der aufbereitete Urushi-Saft, der zügig verarbeitet werden sollte, außerhalb von Japan nicht so leicht zu erhalten ist und die Arbeiten aufgrund der mehrfachen Trocknungen einzelner Schichten zeitaufwendig sind, arbeiten Laien alternativ und pragmatisch bisweilen auch mit Epoxidharz.
Urushi statt Plastik
Wenn Sie zu den vorsichtigen Menschen gehören, die mit ihren wertvollen Porzellanteilen vorsichtig umgehen und Kintsugi für Sie nicht in Frage kommt, dann könnte der Urushi-Lack, der bei dieser Technik verwendet wird, dennoch für Sie von Interesse sein.
Urushi-Schalen, Schalen, die aus Holz angefertigt werden und mit einer feinen Urushi-Schicht lackiert werden, sind ideal, um darin Speisen wie eine Portion Reis oder Porridge vom ersten bis zum letzten Bissen warum zu halten.
Die Verwendung von Urushi kennt man in Japan seit etwa 9000 Jahren. Einstmals wurden wertvolle Schwerter und Rüstungen mit Urushi überzogen. Gegenstände aus Urushi halten mehrere Generation lang. Nur UV-Licht ist schädlich für sie und verkürzt die Lebenszeit von Jahrhunderten auf Jahrzehnte.
Mag man die Gegenstände dennoch dereinst nicht mehr sehen, ist das Kompostieren kein Problem. Im Gegensatz zum Recycling von Plastik oder Gegenständen, die mit herkömmlichen Lacken versehen wurden, können Urushi-Gegenstände, die aus rein pflanzlichen Grundkomponenten bestehen, bedenkenlos kompostiert werden.
London Japan House
Für alle Japan-Liebhaber ist das London Japan House, ein interessanter Ort, mehr über Japan zu lernen. Seit 2018 ist das London Japan House in 101-111, High Street Kensington, zu finden. Der Eintritt ist kostenlos. Es gibt Ausstellungen, interessante Vorträge, Kurse, ein Takeaway Café und ein Restaurant.
Zwei weitere Häuser dieser Art gibt es in Los Angeles und São Paulo. Perfekter kann man Japan nicht vermarkten.
Online kann man dort im Museum-Shop Urushi-Bowls erwerben.
Wer an handwerklicher Kunst interessiert ist und einen Urushi-Künstler erleben möchte den die japanische Regierung zum „lebenden Bewahrer des Nationalen Kunstschatzes“ ernannt hat, kann Murose Kazumi bei der Arbeit mit Urushi in diesem wunderschönen Film erleben. Ästhetik pur.
Basketball – Kintsugi Court
Kintsugi ist keineswegs die Domäne japanisch inspirierter Porzellanliebhaber. Der amerikanische Künstler und Filmemacher Victor Salomon kombiniert in seinem Kunstprojekt „Literally Balling“ Kintsugi mit Basketball.
Zum Ende der COVID-Pandemie, während der Basketball-Spiele nicht mehr stattfinden konnten, reparierte er die Risse eines Basketball-Platzes in Los Angeles mit einem goldfarbenem Kunstharz, um auf die integrierende Kraft der Sportart und die Notwendigkeit des Heilens der Narben, die COVID hinterlassen hatte, aufmerksam zu machen. Kintsugi Court – Kintsugi meets Basketball. Zu sehen bei mymodernmet.com
Titelbild, Antikes Kintsugi © Marco Montalti / Weiße Schale Kintsugi © Alamy Stock Foto