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WIE SCHAFFEN ES POLITIK UND RELIGION, DASS WIR NICHT MEHR MITEINANDER REDEN?

WIE SCHAFFEN ES POLITIK UND RELIGION, DASS WIR NICHT MEHR MITEINANDER REDEN?

Jonathan Haidt zu den Ursachen der Risse durch unsere Gesellschaft

Als wir sahen, dass Trump-Anhänger und Trump-Gegner in den USA nicht mehr miteinander sprechen konnten, schien die Sprachlosigkeit noch fern. Doch was auf der anderen Seite des Atlantiks geschieht, gibt oft einen Vorgeschmack auf die Entwicklung in Europa

Regel bei Familienfeiern: Keine Politik

Um Thanksgiving zu retten und Anhänger der republikanischen und demokratischen Partei an einem Tisch versammeln zu können, wurde (und wird) um des lieben Frieden willens die Losung ausgegeben, dass über alles außer Politik am Tisch gesprochen werden kann.

Eine Vorstufe zum Abbruch der Beziehungen? 

Genau das ist in vielen Freundschaften, Bekanntschaften und Familien passiert, als das Thema COVID und die Einstellung zu Impfungen akut wurden. Viele sahen bei einem Thema, das für einige Risikogruppen ein tödliches Risiko in sich trägt, keinen Wunsch oder Grund, überhaupt noch darüber zu diskutieren, sondern haben den Kontakt und damit das Gespräch zu denen, die anders als sie darüber denken oder COVID für nicht existent erklärten, komplett abgebrochen.

Jonathan Haidt, Professor für Sozialpsychologie an der NY Stern School of Business, beschäftigt sich seit Jahren genau mit diesem Thema: Was führt dazu, dass wir nicht mehr miteinander reden?

Barack Obama und Jeff Bezos empfehlen seine Essays

Jonathan Haidts aktueller Aufsatz „Why the past 10 years for American Life have been uniquely stupid“, der im Magazin The Atlantic im April diesen Jahres erschien, beschäftigt sich mit den Sozialen Medien, die unsere Sprachlosigkeit nach seiner Sicht forcieren. 

Das Essay steht auf der Liste der Leseempfehlungen, die der frühere demokratische US Präsident Barack Obama publiziert hat. Laut Financial Times, wird der Aufsatz auch vom zweitreichsten Mann der Welt, Jeff Bezos, als lesenswert empfohlen.

„The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion“ Jonathan Haidt

Das Buch von Jonathan Haidt schien uns relevant in einer Zeit, in der auch im Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine und die Reaktion darauf, ein Riss durch die Gesellschaft geht.

Nach Seite 188 wollten wir das Buch schon enttäuscht zur Seite legen: Zu anekdotisch, zu selbstverliebt in den eigenen akademischen Lebenslauf und ermüdend, die Aufzählung der Fragebögen, mit der die Forschung zum Thema Moral, dem Spezialgebiet des Autors, vorangetrieben wird.

Eigentlich entschlossen, das Buch in den Recycling-Kreislauf zurückzuführen, haben wir pflichtbewusst doch noch weitergelesen und dann ab Seite 189 mit Spannung jede weitere Seite verschlungen.

Denn ab diesem Kapitel kommt Jonathan Haidt zu seinem Kernthema:

Warum schließen wir uns gerne Gruppen an?

Sei es Religionen, politischen Meinungen, Vereinigungen oder Vereinen?

Er beschreibt die prägenden Rituale in Religionen im Fußballstadion oder in Unternehmen, die dem Einzelnen das Gefühl geben, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Auslöser ist dabei, bewusst oder unbewusst, der Wunsch einer im Darwin’schen Sinne positiven Selektion: Etwas in einer Gruppe zu erreichen, das man allein nicht schaffen kann.

„Superhuman“

Wie kommt es dennoch dazu, dass wir immer wieder auch über uns hinauswachsen und zum Wohle eines übergreifenden, idealistischen Zieles den in der Natur des Menschen liegenden Egoismus und damit die Präferenz für das, was uns selbst nützt, bereit sind, hintenan zu stellen?

Haidt nennt dieses Potential, das im Menschen schlummert und für eine Zeitlang die Konzentration auf das eigene Ich an Bedeutung verlieren lässt: Superhuman.

Es ist, wir ahnten es: Die Gefahr einer äußeren Bedrohung. 

Das Buch von Jonathan Haidt wurde 2012 veröffentlicht. Liest man seine Thesen, die durch zahlreiche Erkenntnisse der Biologie und Anthropologie untermauert werden (jede einzelne Referenz spannend genug, um sie weiterzuverfolgen, wozu das ausführliche Quellenverzeichnis des Buches einlädt) dann ist die Analyse der Reden von Wladimir Putin klar:

Ein Narrativ der Bedrohung und sei es auch noch so konstruiert und geschichtlich falsch wie die Behauptung, dass Russland die Ukrainer vom Nationalsozialismus befreit, wirkt. 

Was noch stärker wirkt

Die Bedrohung gilt in viel stärkerem Maße für den Angegriffenen. Tage und Nächte in U-Bahnstationen oder in einem Stahlwerk zu verbringen ist grauenvoll und wird auch für alle, die es mitverfolgen, zum gruppenprägenden Erlebnis.

Die Armee ist eine der Gemeinschaften, die am engsten zusammenschweisst, insbesondere dann, wenn das Ziel des Kampfes Werte sind, die von den Soldaten als gerecht und verteidigenswert angesehen werden.

Der Mut und die Tapferkeit der ukrainischen Soldaten stehen dafür und die Solidarität derer, die den zweiten Weltkrieg noch nicht vergessen haben.

So ist es nicht erstaunlich, dass sich auch bei diesem Thema die Geister scheiden und Risse durch Freundschaften und Familien gehen. 

Jonathan Haidt formuliert es so: „The human mind is a story processor, not a logic processor“. Jeder von uns ist geprägt von Erlebnissen und Geschichten sowie den Erlebnissen derer, auf die wir treffen und deren Gemeinschaft wir aufgrund unserer Erlebnisse suchen.

Charisma und Technologie

Entscheidend dafür, wer die Herzen und den Kampfwillen auf seiner Seite hat, sind Charisma und immer stärker Technologie. Im Krieg genauso wie im Unternehmen.

Unternehmen, so die Untersuchungen von Jonathan Haidt, denen es gelingt, die Mitarbeiter hinter einer gemeinsamen Idee zu vereinen, die mehr als Umsatz und EBIT zum Kern hat, sind in der Regel erfolgreicher. 

Und ähnlich wie beim Militär haben gemeinsame Aktivitäten in Unternehmen das Ziel, die Bindung zwischen den einzelnen Individuen der Gruppe zu stärken.

Die Nato übt mit Soldaten und Soldatinnen unterschiedlicher Nationen in kürzester Zeit eine Brücke zu bauen.

In Zeiten verstärkter Homeoffice Arbeit wird das frühere Großraumbüro in eine Lounge umgestaltet, mit dem Ziel, Gemeinschaft durch persönliche Begegnungen zu schaffen.

Hat das Unternehmen eine Persönlichkeit an der Spitze, mit denen sich die Mitarbeiter identifizieren, umso besser. Dabei zählen immer stärker Authentizität, Überzeugung und Führungsstärke. Autoritäre Macht allein genügt nicht mehr.

Der Diener des Volkes

Aufschlussreich und in vielerlei Hinsicht sehenswert ist die ukrainische Fernsehserie, die den heutigen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj bekannt gemacht hat: Der Diener des Volkes.

In der ARTE Mediathek sind alle 23 Folgen der Serie zu finden.

Siehe auch

Die Serie ‚Der Diener des Volkes‘ ist nicht mit einem geschliffenen Serienprodukt von Netflix oder Disney vergleichbar. Sie besitzt Humor, Ironie und Menschenkenntnis und lässt die augenblickliche Situation in der Ukraine besser verstehen.

So mancher Scherz darin wirkt oldfashioned und prophetisch zugleich, so dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Technologie und die sozialen Medien spielen eine immer entscheidendere Rolle. Kein Morgen vergeht, an dem wir nicht die Rede des ukrainischen Präsidenten aus der vorangegangenen Nacht via Instagram verfolgen. 

Technologie ist es, die ihm den täglichen Kontakt mit den Staatsoberhäuptern und supranationalen Institutionen der Welt ermöglicht und der Ukraine hilft, viele Cyberangriffe abzuwehren. 

Babylon Reloaded

Plattformen wie Soziale Medien und hier schließt sich der Kreis, sind laut Jonathan Haidt auch dafür verantwortlich, dass wir unsere Fähigkeit zum Dialog mit Andersdenkenden Stück für Stück verlieren.

Algorithmen entscheiden darüber, welche Meinungen wir verstärkt sehen und uns so in unserem eigenen Weltbild bestätigt fühlen. 

Die zum Teil respektlose, aggressive Sprache, mit der in den sozialen Medien agiert wird, lässt viele Menschen, die früher ihren Standpunkt dort geteilt haben, mittlerweile verstummen. Die Lawine der Chatbots ist einfach zu groß und deren Ton unerträglich.

Das führt zu einer immer stärkeren Fragmentierung. Gleichzeitig wird der persönliche Austausch, der entscheidend dazu beitragen kann, Meinungen zu verändern oder zumindest zu modifizieren, immer seltener.

Stumm vor dem Bildschirm

Das Internet als Kriegsschauplatz ist Realität. Autokraten und Diktatoren setzen darauf, denn keine andere Methode ist kostengünstiger und effektiver.

Das Sozialkreditsystem Chinas bei dem jeder Bürger einen Score besitzt, der durch „positive“ Handlungen im Sinne der Zentralpartei aufgefüllt werden kann und durch „negative“ Handlungen reduziert wird, ist ein Beispiel, das die Orwell’schen Visionen noch übertrifft.

Ein staatskritischer Kommentar in sozialen Medien kann ausreichen, zukünftige Auslandsreisen unmöglich zu machen.

Wer für das Buch von Jonathan Haidt mit seinen grundsätzlichen und ab Seite 189 spannenden Ausführung keine Muße hat, der mag vielleicht seinen Artikel zum Thema soziale Medien und warum wir immer weniger eine gemeinsame Sprache finden lesen, der auf seiner persönlichen Homepage zu finden ist.

Wir sind frei zu lesen, was uns interessiert und es zu kommentieren. Die Ukraine kämpft dafür, dies auch zukünftig weiterhin tun zu können. Sie ist nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt. Handeln wir, statt nur zuzuschauen, es geht auch um unsere zukünftige Freiheit.

„Those who give up essential freedom for temporary security deserve neither security nor freedom“

Benjamin Franklin

Fotografien © GloriousMe

 

 

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