Keine Zeit für Ruhe
In der Umsetzung nicht zu Ende gedacht und nicht von ungefähr in den frühen Morgenstunden diskutiert: Der zusätzliche Ruhetag zu Ostern. Ruhe bräuchten die meisten von uns dringend, nur gelingt sie selten oder nie.
BY THE EDITOR
Ruhe, welche Ruhe?
Wissenschaftler, die weltweit anthropologische und seismographische Geräusche messen, hatten dank COVID-19, Sternstunden.
Eine so radikale Reduzierung des weltweiten Geräuschpegels, um bis zu 50 Prozent, wie in den ersten Monaten der weltweiten COVID-Lockdowns, hat es in der Geschichte dieser Messung noch niemals gegeben.
Und nicht nur an Orten wie New York oder Singapur, auch im Schwarzwald wurden die von Menschen verursachten akustischen Signale sehr viel schwächer.
Forscher messen an den unterschiedlichsten Messpunkten all das, was wir selbst täglich hören, beispielsweise den Verkehrslärm in der Stadt, aber auch den Lärm, den wir nicht wahrnehmen, wie die Vibrationen der Schritte von Schulkindern oder die Geräusche von Frachtern, die in weiter Entfernung auf den Ozeanen schwimmen.
Mit der kontinuierlichen Messung von Geräuschen und Vibrationen sollen Erdbeben oder Vulkanbewegungen aufgrund von ungewöhnlichen Veränderungen im Geräuschpegel so schnell als möglich entdeckt werden.
Ruhe ist Luxus
Die lauteste Stadt der Welt im World Hearing Index (2017) ist die chinesische Stadt Guangzhou, gefolgt von Kairo, Paris, Beijing und Delhi. Die Stadt mit dem geringsten Lärmpegel auf der Liste der 50 Städte: Zürich.
Das Unternehmen Mimi veröffentlicht das Ranking, basierend auf Daten der wissenschaftlichen Lärmmessung und der WHO.
U-Bahnen, die schon vor vielen Jahrzehnten gebaut wurden, beispielsweise in Paris oder London, erreichen an einige Stationen Geräuschpegel, bei denen im Arbeitsumfeld ein Ohrenschutz getragen werde müsste.
Kopfhörer sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Aber nur selten dienen sie dazu, nichts zu hören, sondern die Geräusche, die wir als unangenehm empfinden, gegen Musik oder Podcasts auszutauschen.
Schweigen und Stille können wir selten ertragen oder im Alltag realisieren.
Bestenfalls buchen wir für Stille ein Retreat im Kloster oder an einem anderen abgelegenen Ort.
Ruhe ist Tortur
Nur oberflächlich hat uns die Pandemie mehr Ruhe gebracht, weil wir vielleicht den Luxus haben, dass die Produkte unseres Unternehmens in der Pandemie besonders gefragt sind, Homeoffice für uns kein Problem ist oder wir quasi unkündbar sind, komme was immer wolle.
Ärzte und Psychologen berichten von größerer innerer Unruhe ihrer Patienten, die sich gegenläufig zur äußeren Ruhe entwickelt. Leicht nachvollziehbar.
Oft lässt sich Ruhe und Stille im eigenen Heim nicht ertragen. Stille im Homeoffice macht nicht automatisch produktiver.
Gemeinsam schweigend arbeiten
Stille Zoom-Konferenzen, bei denen nicht gesprochen wird, sondern die Teilnehmer nach einer kurzen Vorstellung schweigend bis zur Verabschiedung am Ende der vereinbarten Zeit weiterarbeiten, kommen gut an.
Manche arbeiten effizienter und effektiver, wenn sie, in diesem Fall via Zoom, schlichtweg jemand anderen hören, der die Tasten seines Computers anschlägt, ab und zu mal aufsteht, um sich einen Kaffee zu holen, Dokumente ausdruckt etc.
Der ganz normale Geräuschpegel, den man sonst aus einem Büro oder Co-Working Space kennt, wird von vielen vermisst.
Auch in Bibliotheken lässt sich gut arbeiten. Es ist still, aber man ist nicht allein.
Faszination Ruhe
Einige der berühmtesten Gemälde strahlen Ruhe aus. Sei es Leonardo da Vincis Mona Lisa, die auf ganz eigene Weise in sich zu ruhen scheint und viele Bilder von Edward Hopper.
Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, kehrt uns den Rücken zu und wir spüren, dass er von uns nichts wissen möchte, sondern ungestört die Ruhe in der Natur genießen will.
Wenn wir uns im Urlaub nach einem Ort mit Ruhe sehnen, aber kein Kloster aufsuchen möchten, dann wird die Liste möglicher Urlaubsziele eng. Alle anderen haben den „Geheimtipp“, der Ruhe verspricht, schon entdeckt.
Nichts ist uns eindringlicher in Erinnerung geblieben als Momente am Lake Tekapo in Neuseeland, bei der in der eindringlichen Stille über viele Kilometer der Ruderschlag auf dem See zu hören war.
Tempi passati. Heute ist die Gegend ein Tourismuszentrum.
Bisweilen ist viel Geld und/oder Logistik und Personal notwendig, um Ruhe auf einem abgeschirmten Areal erleben zu können.
Orte, an denen wir Ruhe finden, werden immer rarer. Ob jedoch äußere Ruhe zu innerer Ruhe führt ist fraglich. Können wir ertragen, was wir bei Ruhe in uns hören?
Ruhe rechtzeitig
Ruhe tritt ein, wenn es zu spät ist. In England wurde am 23. März 2021, genau ein Jahr seit dem Beginn des ersten Lockdowns, mit einer Schweigeminute um 12.00 Uhr mittags den Opfern der Covid-Pandemie gedacht.
Auch nach Attentaten oder zur Erinnerung an Kriegsereignisse sind Schweigeminuten Ausdruck des Respekts.
Die letzte Ruhe ist zu spät. Sollten wir nicht dem Thema Ruhe in unserem Leben rechtzeitig mehr Raum und Bedeutung zuordnen?
Finden wir Ruhe tatsächlich nur mit einer App, die uns Musik, Texte oder einen Klangteppiche anbietet? Lässt sich Ruhe ohne Meditation erleben?
Können wir Gesprächspausen noch ertragen ohne das Gefühl zu haben, die Stille sofort mit einem weiteren Redebeitrag füllen zu müssen?
Ruhe zu Ostern
Auch GloriousMe war vom Vorschlag eines zusätzlichen Ruhetags vor Ostern nicht begeistert, denn nur zu gut kennen wir die langen Schlangen vor den guten Bäckereien, den wenigen noch existierenden Fischläden und den Metzgereien, die Wert auf Qualität und artgerechte Aufzucht legen.
Der zusätzliche Ruhetag vor Ostern schien alle die zu bestrafen, die Ostern nicht nur von Tiefkühlkost leben wollten.
Aber der Gedanke zu Ostern mal ein wenig Ruhe zu testen und vielleicht daran Gefallen zu finden ist reizvoll.
Vielleicht ist Stille ein unterschätztes Pendant zur kontinuierlichen Stimulation, die wir von Herzen lieben?
Wir testen Ostern mal stundenweise Stille oder lesen zumindest Don deLillos „Die Stille“ und das „Plädoyer gegen den Lärm der Welt“ des Dirigenten Franz Welser-Möst. Die Osterfestspiele in Salzburger fallen in diesem Jahr eh aus.
Wir werden über die Bücher bei GloriousMe berichten, sollten sie halten, was wir uns von ihnen versprechen und wünschen Ihnen ein frohes, vielleicht auch ruhiges Osterfest.
Fotografien © GloriousMe