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MASSSCHNEIDEREI

MASSSCHNEIDEREI

 

HANDWERK FÜR DEN PERFEKTEN SITZ

Ein Anzug von der Stange ist gut. Maßkonfektion ist besser. Maßschneiderei ist perfekt

Wissenswertes vor dem Besuch beim Schneider

Anzüge kann man Online kaufen, aber es empfiehlt sich der Besuch des stationären Handels. Die Stoffqualität lässt sich für den Laien nur vor Ort prüfen, Sitz und Passform nur vor dem Spiegel beurteilen. Das ein oder andere Fachgeschäft hat für kleine notwendige Änderungen noch einen Mitarbeiter mit Grundkenntnissen des Schneiderfachs vor Ort oder kann ihn mit einem Telefonanruf kurzfristig bestellen.

Hat man Standardmaße oder eine Figur, die den Schnittmodellen der jeweiligen Marke gut entsprechen, hat man Glück und sieht gekleidet aus.

Möchte oder muss man einen Schritt weitergehen, gelangt man zur Maßkonfektion und hier fängt die Begriffsverwirrung an.

Maßkonfektion ist nicht gleich Maßkonfektion

Der Begriff wird unterschiedlich genutzt. In der Mehrzahl der Fälle bedeutet Maßkonfektion, dass es einige Grundformen von Anzügen, Jackets, Hosenanzügen, Kleidern oder Mänteln gibt unter denen man wählen kann.

Diese Grundformen werden dann an einigen entscheidenden Stellen den individuellen Körpermaßen angepasst. Ein gutes Beispiel sind die Länge der Ärmel, die Breite der Schulterpartie, der Brust- und Taillenumfang und andere wesentliche Maße, die von Mensch zu Mensch verschieden sind. 

Eine größere Wahlmöglichkeiten im Vergleich zu den Schnittmustern gibt es bei der Auswahl der Stoffe. Die meisten Anbieter von Maßkonfektion haben die Musterbücher der wichtigsten  Stoffanbieter vorrätig, aus denen man nach Herzenslust Stoffe wählen kann.

Gieves&Hawkes, Savile Row, London © Alamy Stock Foto

Die Auswahl ist meist überwältigend, so dass eine Beratung, welche Stoffqualität welche Vor- und Nachteile hat, wichtig ist. Die Auswahl eines Stoffes benötigt Fachwissen und Erfahrung, denn einige Stoffe sind sehr empfindlich und halten die Strapazen häufiger Reisen schlechter aus als andere.

Manche Stoffe lassen sich nahezu das gesamte Jahr über tragen, andere sind eher für den Sommer oder kältere Jahreszeiten ideal. Allein die unterschiedlichen Qualitäten von Wolle sind eine kleine Wissenschaft für sich.

Auch beim Innenfutter kann man meist noch unter einer relativ große Auswahl an Farben wählen. Bei den Knöpfen wird es dann meist restriktiver.

Immer im Hinterzimmer

Die Maße und individuellen Stoffwünsche des Kunden wandern im Anschluss in ein Schneideratelier. Das kann überall beheimatet sein: Im Hinterzimmer oder auf einem anderen Kontinent, in dem die Schneiderfertigkeiten reichlich vorhanden und die Löhne relativ niedrig sind.

Das gemäß den Maßen individualisierte Kleidungsstück wird vom Kunden anprobiert und weitere Änderungen, falls notwendig, können in diesem oder einem weiteren Anprobetermin angepasst werden.

Von der Auswahl bis zum fertigen Kleidungsstück dauert es in etwa vier bis sechs Wochen. Es sei denn, man ist vor Ort in Hong Kong, Bangkok oder Shanghai, dort geht man eher von vier bis sechs Tagen aus.

Der Begriff Maßkonfektion wird jedoch auch von einigen Anbietern genutzt, die darunter ein komplett individualisiertes Kleidungsstück verstehen. Sozusagen ein maßgeschneidertes Stück.

Maßschneiderei ist das Maß aller Dinge

Wer in etwa den dreifachen Preis der in einigen Punkten individualisierten Maßkonfektion investieren möchte, kann sich von einem entsprechend ausgebildeten Schneider ein Kleidungsstück anfertigen lassen, das ihm oder ihr im wahrsten Sinne auf den Leib geschneidert ist.

Die Individualität beginnt im ersten Schritt der Auswahl: Alles ist möglich. Ein klassischer Anzug, ein modischer Anzug, ein Anzug, wie man ihn vor Jahrzehnten getragen hat, eine Mischung aus verschiedenen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Bei der Maßschneiderei werden alle Körpermaße vermessen und sämtliche Wünsche des Kunden notiert: Soll die Hose etwa weit oben sitzen, soll sie komfortabel weit oder eng geschnitten sein. Sämtliche Kundenwünsche und -maße werden notiert und zunächst ein sogenannter Musteranzug angefertigt. 

Nach dessen Anprobe und in Kombination mit der Auswahl des Stoffes werden die Maße auf ein Papiermuster übertragen, dass später beim Schneider verbleibt und als individuelle Vorgabe für weitere Bestellungen dient.

Dann erfolgt die Erstellung des endgültigen Kleidungsstückes: Jede Naht, jedes Knopfloch, jede Falte, jede Einfassung von Ärmeln etc. wird tatsächlich von Hand genäht.

Egon Brandstetter, ein Maßschneider in Berlin, gibt die einzelnen Arbeitsschritte eines Maßanzuges wie folgt an: 12.000 Handstiche und 120 Einzelteile werden in 80 Arbeitsstunden verarbeitet. Dabei sind Spezialtätigkeiten, wie beispielsweise eine ganz besondere Art, die Schulter- und Oberarmpartie eines Anzuges aufzubügeln, die nur wenige Experten beherrschen, noch nicht berücksichtigt.

Ein Kleidungsstück maßzuschneidern ist Handwerk auf höchstem Niveau und erfordert ganz spezielle Fertigkeiten, die über Jahre hinweg erlernt werden.

Savile Row, London © Alamy Stock Foto

Nicht nur auf der Savile Row

Siehe auch
Mit einem Einstecktuch sieht Ihr Jacket wie neu aus. Ein wichtiges Accessoire, um Farbe in den Modealltag zu bringen.

Die Savile Row in London ist das Mekka der Maßschneiderei. Auf dieser Straße und im nahen Umfeld befinden sich viele der berühmtesten englischen Maßschneider wie etwa Gieves & Hawkes, Huntsman, Anderson & Sheppard und viele andere mehr.

Die Maßschneiderei ist bis heute noch ein überwiegend männliches Metier, zumindest im Bereich der Herrenanzüge. Aber es gibt eine noch kleine, wachsende Anzahl von weiblichen Schneiderinnen, die sich mit Erfolg behaupten. 

Eine der ersten Frauen, die es geschafft hatte, bei Gieves & Hawkes zur ersten Zuschneiderin ernannt zu werden, ist Kathryn Sargent. Die Zuschneider (im Englischen Cutter) sind Spezialisten, die mit ihren berühmten Schneiderscheren sowohl die Papiermaße des jeweiligen Kunden für das Kleidungsstück anfertigen und dann mittels der Papiermaße den kostbaren Stoff entsprechend zuschneiden. 

Zunehmend weiblich

Kathryn Sargent hat sich mit einem eigenen Atelier selbstständig gemacht. In einem sehenswerten Video zeigt sie die unterschiedlichen Schritte, die notwendig sind, einen Anzug Maßzuschneidern. Das Video trägt den bezeichneten Titel „Why bespoke Savile Row Suits are so expensive“. Ein zweiteiliger Anzug kostet bei ihr in etwa 6.000 englische Pfund.

Why Bespoke Savile Row Suits Are So Expensive © Insider Business, YouTube

Dafür erhält man ein Kleidungsstück das komplett individuell ist und bei einem guten Schneider der eigenen Figur, der Haut- und Haarfarbe und sogar dem Auftreten und Gang schmeichelt. Ein guter Maßschneider ist ein guter Menschenkenner und kann sich in Beruf oder Privatleben gut einfühlen und das entsprechende Stück maßfertigen, das genau dazu passt und ein Stück weiter geht.

Ein solches Kleidungsstück kann man bei guter Pflege, wir erinnern an die Kleiderbürste, sogar vererben.

Während in London immer mehr Maßschneider, die oft bei einer der Topadressen ausgebildet wurden, ihr eigenes Atelier eröffnen, wird die Anzahl der Maßschneider in Deutschland eher rar. Noch findet man in jeder größeren Stadt eine Handvoll, aber die Nachfrage ist auf diesem Markt bei weitem nicht so groß wie in London, Tokio, Hongkong oder Paris.

Sollte Ihnen der Name Egon Brandstetter bekannt vorkommen, dann haben Sie vermutlich ein gutes Gedächtnis und erinnern sich an den Abspann des Filmes Tàr, in dem Cate Blanchett als Dirigentin zu sehen war, die eine Dirigentenstelle bei einem Orchester in Deutschland antritt und sich dafür einen Frack maßschneidern lässt. Der Schneider in den Eingangsszenen war Egon Brandstetter.

Es muss ja nicht gleich ein Frack sein. Es lässt sich auch mit einem perfekten Blazer, einem Rock oder einem Jacket beginnen. Wer sich einmal den handwerklichen Luxus geleistet hat, ist meist auf den Geschmack gekommen.

Titelbild, Huntsman, Savile Row, London © Alamy Stock Foto

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