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VENICE WAS MY FIRST LOVE

VENICE WAS MY FIRST LOVE

Retten die Salzmarschen der Lagunen am Ende Venedig?

 

Die Lagune steht für den Anfang von Venedig und gibt Hoffnung auf ein gutes Ende für Venedig. Für alle, die Venedig lieben.

 

Mit Frau Dr. Eberlein im Nerz durch Venedig

In ihrem Geschichtsunterricht sprach sie mit so viel Liebe und Begeisterung von La Serenissima, dass wir Venedig mit ihr erleben wollten.

Die Mädchenklasse, die sich vor vielen Jahren mit ihrer Lehrerin per Bus und Zug in die Lagunenstadt aufmachte, strandete zunächst am Bahnhof von Venedig.

Zu dicht war der Novembernebel – die Fahrten der Schiffsbusse waren ausgesetzt worden.

Als sich der Nebel nach eineinhalb Stunden lichtete und das Vaporetto uns zur Jugendherberge auf die Insel Giudecca brachte, war es Liebe auf den ersten Blick.

Entlang des Canal Grande, vorbei an den Palästen, in denen am dunklen Novemberabend verheißungsvoll gedämpftes Licht in den oberen Stockwerken schimmerte.

„Nach Venedig reist man im November“

das hatten wir von Frau Dr. Eberlein gelernt und sofort verstanden. In diesem Monat hat die Stadt eine besondere Magie.

Nasskalt war es und der schwere Nerzmantel, den Frau Dr. Eberlein trug, um sich gegen die Kälte zu wappnen, war in diesen Zeiten noch politisch korrekt. Erst am letzten Abend verriet sie uns, dass sie im Saum die Lira-Scheine für unseren Aufenthalt eingenäht hatte.

Die Lagune, die wir mit unserem Taschengeld zu schützen versuchten

Die Lagune ist der Ursprung von Venedig. Dort suchten 421 die ersten Siedler Schutz vor kriegerischen Hunnen. Sie ist gleichzeitig ein wichtiges Ökosystem.

In den weitläufigen Salzmarschen herrscht eine große Artenvielfalt an Vögeln, Fischen, vielen anderen Tieren und Pflanzen. Die Lagune schützt die Stadt vor Überschwemmungen.

Laguna B, eine Glasfirma in Venedig, die sich für die Erhaltung dieses Gebietes einsetzt, macht in diesem kleinen Video, die Großartigkeit dieses Gebietes sichtbar.

 

Die Bedeutung der Lagune für Venedig ist lange bekannt. Begeistert von der Idee, Venedig zu erhalten, spendeten wir bereits in der 8. Klasse mit großer Überzeugung unser Taschengeld für eine Initiative, die Venedig vor dem Zerfall retten wollte.

Venedig feiert 1600. Geburtstag

Das Flutregulierungssystem, das bereits Milliarden Euro gekostet hat, kann Venedig bis heute nicht wirkungsvoll schützen. Die Flut am 19. November 2019 gehörte zu den schlimmsten Hochwassern, die Venedig bislang gesehen hatte. Nicht nur der Markusplatz, weite Teile der Altstadt standen unter Wasser.

2021, im Jahr des 1600. Geburtstages von Venedig, gibt es jedoch Hoffnung, dass Venedig nicht nur eine glänzende Vergangenheit sondern auch eine sichere Zukunft haben könnte.

Venedig hat mich nie enttäuscht

Der erste Besuch in Venedig hat die Liebe zu dieser einmaligen Stadt geweckt. Ob privat oder beruflich, zu Geburtstagen und Jubiläen, zu Firmenveranstaltungen und zu Besuchen der Biennale. Wann immer es möglich war und möglichst im November bin ich in die Stadt gereist.

Venedig hat mich nie enttäuscht. Die einzigartige Schönheit war immer verlässlich präsent. Wenn man sich ein wenig auskennt und auf Nebenstraßen ausweicht, kann man den Touristenströmen fast an jeder Stelle entgehen.

Das Essen war immer hervorragend, egal ob es die Pizza am Brunnen, der Imbiss aus dem kleinen Lebensmittelladen an der Ecke oder das Sternerestaurant aus dem Guide Michelin war.

Die Kunst der Biennale und die privaten Kunstsammlungen in diversen Palästen, dem ehemaligen Zollamt (Punta della Dogana) oder im Klassiker, dem Peggy Guggenheim Museum, war oft spannend und immer atemberaubend präsentiert.

Unübersehbar wie die Kreuzfahrtschiffe

Beim bisher letzten Besuch, vor Corona, war das Dilemma nicht mehr zu übersehen: Die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die unvermittelt am Horizont auftauchten, an prominenter Stelle in der Stadt landeten und ihre Schiffsgästen für genau 1,5 Stunden zum Landgang entließen.

In langen Schlangen standen die Schiffspassagiere danach wieder pünktlich vor ihrem Schiff, um das Mittagessen dort einnehmen zu können. Der genaue Zeitplan für die Passagiere war am Kai angeschlagen.

Die Argumentation, dass Kreuzfahrttouristen länger in der Stadt bleiben und mehr Geld ausgeben würden, klingt unwahrscheinlich.

Auf dem Markusplatz und auf den Wegen entlang zu den Kreuzfahrtschiffen war kein Durchkommen. Alles schob sich in einem riesigen Gemenge.

Vielleicht hat auch die Atempause, die Corona verursacht hat, ein wenig geholfen, die Probleme Venedigs nicht länger zu ignorieren.

„We are here Venice“

Die Initiative „We are here Venice“ macht seit einigen Jahren intelligent und kreativ auf die Probleme Venedigs aufmerksam: Das historische Zentrum von Venedig ist für viele Venezianer als Wohnort unerschwinglich geworden, gleichzeitig verfallen Wohnhäuser und ehemalige Gewerbegebäude.

Lebten 1951 noch 175,000 Einwohner im historischen Kern der Stadt, sind es 2021 nur noch 50,000 Einwohner.

Wohnungen wurden in Hotelzimmern und kurzzeitig vermietete Appartements umgewandelt. Miete oder Kauf einer Wohnung sind preislich für die Mehrzahl der Venezianer nicht mehr realisierbar.

28 Millionen Touristen jährlich. Vor Corona.

Die extrem große Abhängigkeit der Wirtschaft vom Tourismus schafft in Pandemie-Zeiten hohe Arbeitslosigkeit. Vor Corona besuchten jährlich 28 Millionen Touristen Venedig.

Spricht man von Venedig, meint man meistens nur die Città Storica. Die Mehrzahl der Besucher besichtigt in diesem Gebiet nur wenige Straßen und Plätze.

Die Kreuzfahrtschiffe bereiten der Bausubstanz der fragilen Stadt substanzielle Schwierigkeiten und obwohl Venedig autofrei ist, besitzt die Stadt die drittschlechteste Luftqualität in Italien.

„We are here Venice“ macht es sich nicht einfach wie viele, die nur ein Schild hochhalten auf dem „No tourists“ steht oder begeistert Filmchen mit Delfinen in den Kanälen Venedigs twittern.

Die Initiative sieht die Vielschichtigkeit des Problems und versucht mit intelligenten Lösungen für die Zukunft Venedigs zu kämpfen.

CO2 nicht als abstrakter Handelswert, sondern real in den Salzmarschen

Eine gemeinschaftliche Untersuchung der Universität Ca Foscari mit Wissenschaftlern der Universitäten von Padua und Cambridge kam zu der Erkenntnis, dass die Pflanzen der Salzmarschen, die Venedig umgeben, vergleichsweise mehr CO2 absorbieren als Bäume.

Das hat das Interesse der internationalen Presse wieder geweckt, die es schon leid war, mal wieder über Venedig als sterbende Stadt zu berichten, in der sich doch nichts ändert.

In Zeiten in denen CO2 ein politisches Pfund ist, das allerorten diskutiert und verhandelt wird, klingt es tröstlich und hoffnungsvoll zugleich, dass die Salzmarschen der Lagune einen so positiven Beitrag für die Umwelt und die Zukunft Venedigs leisten können.

Jane da Mosto, eine der Gründer von We are here Venice, gelang es so, internationale Aufmerksamkeit zu erhalten.

Intelligenter als nur ein Schild „No tourist“

Jane da Mosto und ihre Mitstreiter sehen die Bedeutung der Besucher für ihre Heimatstadt und argumentieren für Besuche, die Venedig und seine Kultur tatsächlich schätzen.

Ein Student, der im historischen Zentrum leben kann, mag ein schmales Budget im Vergleich zum Teilnehmer einer Luxuskreuzfahrt haben. Aber während der Kreuzfahrttourist sein Geld meist nur indirekt über die Hafengebühr an die Stadt abgibt, bereichert der Student das Leben Venedigs in vielfältiger Weise.

Der Initiative geht es um Besucher, die mehrere Tage in der Stadt bleiben und die auch daran interessiert sind, dass Venedig als Ort für Wohnen, Arbeiten und Gewerbe erhalten bleibt. Die einmalige Stadt soll nicht nur als malerische Kulisse für Selfies dienen.

Es geht um Miteinander, statt Gegeneinander

Im Moment arbeitet die Initiative daran, Partner in der Stadt zu finden, die ein Spendenangebot für die Salzmarschen in ihr Angebot für Besucher integrieren.

Ähnlich, wie es bei einigen Fluggesellschaften bereits der Fall ist, bei denen Geld für die Aufforstung des Amazonas-Gebietes gespendet werden kann, könnte beispielsweise mit dem nächsten Bellini in Harry’s Bar bei der Bezahlung die Möglichkeit bestehen, einen Spendenbeitrag für die Erhaltung der Salzmarschen Venedigs zu leisten. Eine gute Idee.

Auch die Kunst, so die Initiative, nutzt in vielen Fällen die Stadt Venedig, ohne ein echtes Interesse an Venedig zu haben.

„How was it for you“

Mit diesem Aufruf wendet sich die Initiative mit „Ungefragten Hinweisen an zukünftige Kuratoren und Kunstexperten“ und versucht dafür zu sensibilisieren, dass zukünftig mehr gefragt ist, als nach Venedig einzufliegen, eine Installation zu kuratieren und nach der Premierenfeier mit dem nächsten Flugzeug wieder zu entschwinden.

Ein Dialog und ein Miteinander ist gefragt. Die Kunstwelt und die Einwohner Venedigs – das sind in der Tat zwei Welten, die sich fast nur beim Gepäcktransport und an der Espresso-Bar begegnen.

Siehe auch
Despektierlichen, unsachlichen Kommentaren gegenüber Frauen sollte man insbesondere als weibliche Führungskraft etwas entgegensetzen und nicht schweigen.

Kennt man den Kunstzirkus, erkennt man beim Lesen dieser intelligenten und gleichzeitig humorvollen Publikation vieles wieder, was man schon seit Jahren gespürt hat.

Aber auch bei der Ansprache der Kunstszene ist „Venice we are here“ erfrischend undogmatisch. Die Kunst ist frei und man möchte nicht jedem Kunstbeitrag eine möglicherweise künstliche Brücke zu Venedig aufzwängen. 

Die Brücken, die man baut, werden langsam angenommen und es gibt Überlegungen, wie man Ort wie das Arsenale und die Giardini auch in den Zeiten zwischen den Biennalen mit mehr Leben für und mit den Einwohnern Venedigs verbinden kann. Es bewegt sich etwas.

Die Pandemie als Chance für Venedig

Die Initiative „Venice we are here“ sieht die Atempause der Pandemie als Chance, einer Reihe von politischen Initiativen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, beispielsweise Wohnraum für Venezianer wieder bezahlbarer zu machen, leerstehende und verfallende Gebäude zu restaurieren und mit echtem Leben zu füllen.

Als Dreh- und Angelpunkt wird die Notwendigkeit gesehen, Arbeitsplätze auch außerhalb der Tourismusindustrie zu schaffen.

Ein wichtiger Transformationsprozess bei dem Venedig eigentlich beste Chancen mitbringen könnte, sollte es gelingen, die Regionalregierung und Rom davon zu überzeugen. 

„Venice we are here“ sieht die Zukunft der Altstadt nicht in einem ausschließlich hochpreisigen Exklusivareal mit steilen Eintrittspreisen. Das macht „Venice we are here“ so sympathisch und der Unterstützung wert.

Nur in einem Punkt zieht man eine eindeutige rote Linie: Kreuzfahrtschiffe sind in Venedig nicht mehr erwünscht.

Zu fragil ist das Ökosystem und die Bausubstanz der weltweit einmaligen Stadt, die gerade deshalb der Höhepunkt vieler Kreuzfahrten durch das Mittelmeer darstellt.

Im Jahr 2019 legten 546 Kreuzfahrtschiffe in Venedig an

Im Jahr 2020 waren es 6 Schiffe.

Im Jahr 2021 nun endlich ein kleiner Schritt: Kreuzfahrtschiffe, die länger als 180 Meter sind oder einen besonders hohen Ausstoß an Abgasen haben, dürfen nicht mehr in den Hauptkanal in die Mitte der Stadt einfahren. Allerdings erreichen sie immer noch das fragile Ökosystem der Lagune.

Seit einiger Zeit werden alternative Routen für die Kreuzfahrtschiffe rund um Venedig und ein Hafen für Kreuzfahrtschiffe im Industriegebiet von Maghera diskutiert. Der dortige Industriehafen, wichtig für die Petro- und Chemieindustrie, wehrt sich dagegen.

Zu groß sind die Befürchtungen, dass die Kreuzfahrtindustrie die Überhand gewinnt und die letzten Industriearbeitsplätze auch noch weichen müssen.

Triest als Ausweichhafen oder eine völlig neu zu errichtende Insel im Mittelmeer, auf der die Kreuzfahrtouristen anlanden und von dort aus in die Stadt transportiert werden, sind im Gespräch.

Die Folgen sind leicht nachvollziehbar: Man sieht förmlich die Armada der Boote vor Augen, auf die 4000 – 5000 Passagiere eines großen Kreuzfahrtschiffes verteilt werden, um zum Markusplatz und zurück zu düsen.

Zwei Stunden in Venedig nützen niemandem

Auch wenn wir die Bemühungen der Kreuzfahrtindustrie um mehr Umweltverträglichkeit durchaus sehen wie alternative Antriebe und Landladestationen, die aus regenerativen Energiequellen gespeist werden.

Wir teilen die Meinung von Jane da Mosto: Venedig und Kreuzfahrttourismus sind unvereinbar.

Zwei Stunden auf völlig überfüllten Plätzen in Venedig sind kein Genuss. Jede Drei-D-Animation und selbst die Nachbauten von Venedig in Las Vegas und an anderen Orten bieten in diesem Fall ein besseres Erlebnis.

Wenn der historische Teil Venedigs nur noch als Kulisse einer Tourismus-Show genutzt werden soll, dann kann die Kulisse gleich an anderer Stelle nachgebaut werden.

Liebende sind immer optimistisch. In diesem Fall glauben wir, dass Venedig dank der Atempause der Pandemie eine Chance hat zu überleben und Death in Venice ein lesenswertes Buch, ein sehenswerter Film und eine gute Oper bleiben, aber nicht zur Realität werden.

Fotografien © GloriousMe 

 

 

 

 

 

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