Beleidigt und empört, weil andere Kulturen verletzt werden? Oft ein Muster, das nur dem eigenen Vorteil dient und Gefahren birgt.
Vermeintlich wohlmeinende Empörung, die an unser Gewissen appelliert, kann der Schritt zur Gedankenpolizei sein, schreibt Caroline Fourest. Ihre Kritikschrift ist lesenswert.
Aneignung fremder Kulturen – das gefährliche Argument
Sie freuen sich auf Ihre nächste Yoga-Stunde? Es gibt empörte Stimmen, die der Ansicht sind, damit eignen Sie sich die Kultur Indiens an.
Auch wenn Sie jetzt den Kopf schütteln und sich selbst darüber empören, dass sich jemand anmasst, die komplexe Kultur des indischen Kontinents so zu generalisieren, Ihre Yoga-Stunde fällt womöglich aus.
Das Argument traf eine Yoga-Schule in Kanada, die seit Jahren kostenlos Yoga-Stunden für Menschen mit körperlichen Einschränkungen anbot.
Die Empörung über die Aneignung der indischen Kultur geschah mit dem Hinweis auf den Kolonialismus, westliche Dominanz, Unterdrückung und Völkermord. Die Medien nahmen das Thema auf und die Yoga-Stunden wurden nicht mehr durchgeführt.
Dieses Muster wiederholt sich im Moment in vielen Ländern.
Caroline Fourest hat ein Buch darüber geschrieben, das wir für lesenswert halten und Ihnen zur Lektüre ans Herz legen möchten.
Generation beleidigt
Das Buch „Generation Beleidigt“ der französischen Journalistin Caroline Fourest trägt den Untertitel „Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer“.
Sie beschreibt in dieser Kritikschrift Ereignisse an Universitäten, in vielen kulturellen Bereichen und im öffentlichen Raum, die Anlass zur Sorge geben.
Künstler, Dozenten, Journalisten und viele andere werden mit dem Argument angegriffen, sie würden sich mit ihren Äußerungen oder Aktivitäten die Identität einer anderen Kultur aneignen.
Damit würden sie das Leid, dass diesen Kulturen angetan wurde, herabsetzen und den Empörten mit ihren Äußerungen und Aktionen Schmerz und Leid zufügen.
Treffen kann es jeden
Der Kochstar Jamie Oliver wurde angegriffen, weil er das Rezept eines Reisgerichtes mit dem Namen „Jerk-Reis“ veröffentlichte. Es geht dabei um eine Gewürzmischung, die im 17. Jahrhundert von afrikanischen Sklaven für die Zubereitung von Hähnchen verwendet wurde und bis heute in Jamaika beliebt ist.
Jamie Oliver verwendete nicht alle Gewürzbestandteile der ursprünglichen Gewürzmischung. Ihm wurde daraufhin von einer Labour-Abgeordneten via Twitter vorgeworfen, er würde sich die kulturelle Identität Jamaikas aneignen und das Leid der Sklaverei verharmlosen. Das müsse aufhören.
Jamie Oliver antwortete mit einer offiziellen Erklärung.
Madonna trug bei einem Fernsehauftritt zur Würdigung von Aretha Franklin ihr blondes Haar zu Zöpfen gebunden. Man warf ihr vor, mit dieser Frisur „afrikanische Zöpfe“ zu imitieren. Ebenso dürfe sie nicht über eine schwarze Frau sprechen, da sie weit davon entfernt sei, die schwierigen Lebenswege von schwarzen Frauen nachvollziehen zu können.
Madonna konnte es sich leisten, dazu nur die Achseln zu zucken und sich nicht zu entschuldigen.
Scarlett Johannsen war für die Rolle einer Frau vorgesehen, die ein Mann werden möchte. Aufgrund des Protestes des Vorsitzenden der NGO Transgender Europe, hat sie die Rolle nicht erhalten.
Die Kantine einer amerikanischen Universität setzte ein vietnamesisches Gericht auf die Speisekarte. Eine asiatische Studentin fühlte sich verletzt, da das Gericht nicht in allen Elementen dem Original glich.
Das Gericht wurde von der Speisekarte gestrichen.
Einige amerikanische Professoren, die sich an ihren Universitäten für das Recht der Redefreiheit eingesetzt hatten, wurden massiv angegriffen, öffentlich diffamiert und verloren ihre Anstellung.
Das Muster
Das Muster ist immer gleich: Jemand fühlt sich verletzt, empört sich, erhält Gehör und die Mehrzahl der Angegriffenen gibt daraufhin eine öffentliche Entschuldigung ab und verspricht, die Gefühle der selbst ernannten Sprecher einer empörten Minderheit nicht mehr verletzten zu wollen.
Was sie in der Regel ursprünglich in der Mehrzahl gar nicht beabsichtigt hatten.
Denn selbstverständlich geht es in diesem Artikel und im Buch von Caroline Fourest nicht um herabwürdigende Sprache oder tatsächliche Verletzungen jedweder Art.
Es geht um die Gefahr der Redefreiheit und des Liberalismus.
Die Gefahr
Unter dem Deckmantel des Schutzes der Gefühle von verletzten Minderheiten entsteht ein Anspruch, alle Themen, die mit kultureller Identität verbunden werden, nur denjenigen zugestehen, die dieser kulturellen Gruppe angehören:
Ein vietnamesisches Gericht darf nur noch von einem Vietnamesen gekocht werden, die Rolle einer schwarzen Bühnenfigur darf nur noch von einem Schwarzen gespielt werden, eine Frisur, die einem indigenen Volk zugesprochen wird, darf nur noch von Angehörigen dieses indigenen Volkes getragen werden.
Die Radikalität, mit der diese Forderungen vorgetragen werden und die sprachliche und bisweilen sogar körperliche Gewalt, die denjenigen entgegenschlägt, die sich dagegen wehren und die Freiheit der Rede, die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Wissenschaft verteidigen möchten, erinnert uns an dunkelste Zeiten, in denen Bücher verbrannt wurden und Kunst als entartet bezeichnet wurde.
Keiner Minderheit ist damit geholfen
Der Anspruch der vorgeblich Beleidigten führt zu radikalen Beschränkungen, die am Ende gerade Minderheiten am stärksten trifft.
Dürfen schwarze Schauspieler nur noch von schwarzen Synchronsprechern gesprochen werden, schließt man schwarze Synchronsprecher von vielen anderen Synchronisierungsprojekten automatisch aus.
Gleichzeitig reduziert man mit diesen Forderungen Minderheiten auf ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht, ihre Abstammung oder ihre sexuelle Orientierung.
Sie halten das für übertrieben und fern Ihrer Realität?
Leider nein. Es sind nicht nur Universitäten in den USA, Kanada und England, an denen diese Ereignisse stattfinden.
Der Schriftstellen Matthias Politycki beschreibt in seinem Artikel „Mein Abschied von Deutschland“, FAZ vom 17. Juli 2021 sein Unbehagen mit denjenigen, die sich in Deutschland als Kulturwächter der Sprache profilieren möchten und die ihn zwingen möchten, seine literarischen Werke in einer gendergerechten Sprache zu verfassen.
Die Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld, die ursprünglich beauftragt worden war, die Gedichte von Amanda Gorman in die niederländische Sprache zu übersetzen, wurde angegriffen, weil sie keine schwarze Hautfarbe hat.
Amanda Gorman hatte sich ursprünglich über die Wahl der renommierten Übersetzerin sehr erfreut geäußert. Nach den Protesten wurde der Übersetzungsauftrag vom Verlag an ein Übersetzerteam neu vergeben.
Gendergerechte Sprache kann der Vorbote von Cancel Culture sein
Aus Ihrem Berufsalltag kennen sie die Diskussionen über eine gendergerechte Sprache schon seit einiger Zeit. Mittlerweile erleben Sie die Diskussion über Sprache auch in Ihrem Verein oder im Zeitungskiosk an der Ecke.
Vielleicht sind sie schon ein wenig ermüdet von der Diskussion und wollen das Thema einfach nur hinter sich lassen.
Das Buch von Caroline Fourest zeigt, dass der Ruf nach gendergerechter Sprache oft der erste Schritt hin zum vermeintlichen Anspruch kultureller Identität ist. Kritische Aufmerksamkeit bei diesen Themen ist gefragt.
Lediglich ein Achselzucken kann uns alle Freiheit und Liberalität kosten.
Ein wichtiges Buch, das sensibilisiert
Die 143 Seiten des kleinen Taschenbuchs hat man schnell gelesen. Die anschaulichen Beispiele in dem Buch helfen, das Muster zu erkennen und wachsam zu bleiben.
Oftmals wird der aufrichtige Wunsch, andere nicht zu verletzen, gnadenlos ausgenutzt. Nicht selten, um sich selbst via Empörtheit zu einem lukrativen Auftrag oder Job zu verhelfen.
Caroline Fourest hat einige Jahre für die französische Satiremagazin Charly Hebdo gearbeitet und wurde für ihr Eintreten für die Ehe für alle massiv angegriffen.
Ihre Kritikschrift ist mutig und sollte uns ermutigen, lautem Protest, da, wo er nicht gerechtfertigt ist, nicht nachzugeben oder abzuwinken, sondern Haltung zu zeigen.
Zehn Jahre nach Utoya
Das grausame Attentat auf der norwegischen Insel Utoya hat in diesem Jahr den 10. Jahrestag erlebt. Der Attentäter ermordete 55 Teilnehmer eines Feriencamps der finnischen Labourpartei und verletzte unzählige weitere Opfer. Im Prozess gab er an, dass er damit „Multikulturalität“ treffen wollte.
Der damalige Ministerpräsident von Norwegen, Jens Stoltenberg, sprach zwei Tage nach dem Attentat in der Kathedrale von Oslo. Ein Zitat aus seiner damaligen Rede: „Our Response is more democracy, more openess and more humanity. But never naivity“.