Mit 50 Jahren entschloss sich Jimin Oh-Havenith nochmals als Konzertpianistin zu starten
Interview mit der Konzertpianistin Jimin Oh-Havenith über das Üben als Kraftakt, den Tag einer professionellen Konzertpianistin und den idealen Konzertraum
Die Klarheit, scheinbar mühelose Präzision und die Phrasierung ihres Klavierspiels hat uns sofort interessiert aufhören lassen. Die Pianistin, die es schafft, mit ihren Aufnahmen auf YouTube zu faszinieren, wollten wir gerne kennenlernen.
Dabei haben wir festgestellt, dass vieles, was uns Jimin Oh-Havenith über sich erzählte, keineswegs nur für Musikenthusiasten interessant ist.
Sie haben sich nach vielen Jahren fern von der Bühne wieder entschlossen, auf die Konzertbühne zurückzukehren und als Konzertpianistin tätig zu werden.
Jedem, der die hohen Anforderungen und den immensen Wettbewerb im Bereich der klassischen Musik kennt, ist klar, was diese Entscheidung bedeutet.
Was war der Auslöser für diese Entscheidung, Ihr Leben von heute auf morgen radikal zu ändern und sich auf die Konzertkarriere zu konzentrieren?
Ich bin dazu erzogen, Entscheidungen immer sehr objektiv, sehr rational zu treffen. Die Welt funktioniert in vielerlei Hinsicht objektiv. Im Leben des Einzelnen funktioniert das nicht. Aus objektiver Sicht gab es für mich wenige Kriterien, die Entscheidung zu treffen, wieder auf die Konzertbühne zurückzukehren.
Trotz all den Gründen, die dagegen sprachen, wollte ich das auf jeden Fall tun. Es ist sehr schwierig, für sich selbst herauszufinden, was wirklich in einem steckt, was man kann und was man hervorbringen will. Und ich wollte das nicht unversucht lassen.
Was den Wettbewerb in der klassischen Musik angeht, wird sehr viel gemessen, obwohl gar nichts messbar ist. In der Wissenschaft muss unter möglichst gleichen Bedingungen gemessen werden, um eine begründete Aussage machen zu können. Aber jeder Musiker hat einen anderen Hintergrund: von seiner kulturellen Herkunft und Biografie, und auch Ausbildung – daher lässt sich eigentlich nichts wirklich vergleichen. Zu messen ist bisweilen absurd, ja fast eine Form von Gewalt.
Die Musik auf dem Klavier – das ist meine Sache. Auch wenn es in meinem Leben zuvor nicht möglich war, dass ich ganz beim Klavier sein konnte, kam ich doch immer wieder dahin zurück.
Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, wieder auf die Bühne zurückzukehren? Wie sieht ein typischer Tagesablauf bei Ihnen aus?
Die Vorbereitung ist ganz einfach: Üben. Völlig unabhängig von dem, was man macht: Die Vorbereitung ist immer das Üben. Mein Tagesablauf hat sich natürlich verändert, als ich mich wieder ganz für die Musik und das Klavier entschieden habe. Die Kinder waren groß genug. Vorher ist man so besessen davon, dass das Klavier vor allem steht, vor der Familie, vor dem Leben. Und ich bin erst durch jahrelanges Ringen dazu gekommen, dass das nicht mehr so ist. Ich richte mich einfach immer danach, welche familiären Pflichten ich habe und dann teile ich mir den Rest des Tages ein, wie ich übe.
Üben ist ein Kraftakt
Ich kann nicht einfach sagen, dass ich sieben oder acht Stunden übe. Um so lang zu üben, benötigt man mindestens zehn Stunden am Tag. Das ist nur machbar, wenn man jung ist, kaum Pausen macht, nicht richtig isst und sich um nichts kümmert. Das konnte ich nie. Mein Tagesablauf richtet sich danach, was ich sonst zu tun habe, also auch im Haushalt und andere Verpflichtungen – und dann gehört der größte Teil des Tages dem Üben. Ich finde es wichtig, dass ich Abwechslung und Unterbrechungen vom Üben habe. Der Lock-Down der Corona-Zeit brachte für mich kaum eine Veränderung in meinem Alltag. Da können Sie sich vorstellen, wie ich normalerweise lebe. Ich gehe nur raus, wenn ich muss, ansonsten bin ich mehr oder weniger in „Übe-Quarantäne“ (lacht).
Eine professionelle Leistung am Konzertflügel ist neben Talent und Fähigkeiten nur möglich mit einer exzellenten körperlichen Kondition. Verraten Sie uns, wie Sie sich fit halten?
Bevor ich mich fit halte, muss ich fit werden. Ich verstehe unter fit sein, wirklich im Ganzen gesund zu sein, also nicht unter allen Umständen robust zu sein, sondern mit angemessener Sensibilität reagieren zu können. Ich hatte eine chronische Krankheit; richtig fit war ich eigentlich nie. Ich wusste aber, wenn ich nicht gesund werde, ist es nicht möglich, Pianistin zu sein. Daher musste ich extrem detailliert schauen, was geht und wie es sich anfühlt. Mein Körper hatte einfach verschiedene Beschwerden.
Bevor man physisch etwas macht, muss man schauen, wie die innere Haltung ist. Man sollte den Körper nie zwingen, etwas zu tun. Ich brauchte einen sehr behutsamen Umgang, alles im Ganzen zu betrachten – meinen Körper und meine innere Haltung. Das war eine jahrelange Arbeit. Praktisch hieß das, den Körper als Instrument zu begreifen, zum Leben und zum Klavierspielen. Durch dieses genaue Hinschauen, Fühlen und Lernen bin ich letztendlich gesund geworden. Und das ist natürlich nur machbar, wenn man sich nicht mit vielen Terminen unter Druck setzt und einem gnadenlosen Leistungssystem unterwirft. Man muss wissen, wie man sich da entzieht.
Richtig Sport treibe ich nicht, dafür habe ich zu wenig Zeit. Was ich mache, sind sehr effektive Dehnübungen, das hilft. Und natürlich Spazierengehen. Das ist eine sehr gute Basis, um das Gefühl für den Körper zu behalten. Um fit zu sein, reicht es nicht, den Körper nur zu trainieren. Wichtig ist es, die Sensibilität für den Körper zu erhalten, um ihn nicht zu stark anzustrengen. Den Körper ohne Angst zu fühlen, hilft hierbei.
Bevor man etwas tut, um fit zu bleiben, muss man erst die unnötigen Dinge streichen, die einen daran hindern. Für jeden sieht das etwas anders aus, das muss jeder für sich herausfinden.
Ich achte sehr darauf, keine Zeit zu vergeuden
Die Zeit und die Kraft, die man nicht genutzt hat, kann man nicht wieder zurückholen. Da muss man sehr genau aufpassen, ob man sie nicht für unnötige Dinge ausgibt. Natürlich meine ich nicht, dass man wie eine Maschine leben soll, aber man kann sehr genau herausfinden, was für einen selbst unnötig ist und wie man die Zeit, die man hat, nutzen kann, um den Raum für seine Aufgabe zu haben und zu bewahren.
Der Bösendorfer Flügel ist Ihr bevorzugtes Instrument. Was zeichnet diese berühmte Flügelmarke aus? Wie essentiell ist sie für den individuellen Klang Ihres Klavierspiels?
Ja, Bösendorfer ist mein bevorzugtes Instrument. Ein Bösendorfer bietet mir vom Klang und Anschlag die Möglichkeiten, die ich für meine Musik brauche. Für mich passt der Bösendorfer einfach besser. Es ist nicht so, dass jeder Bösendorfer-Flügel das für mich möglich macht. Ich hatte einfach Glück, ein Instrument zu finden, das mit mir so gut zusammenpasst. Der Flügel ist etwas zurückhaltender – mit ihm kann ich den Klang und die Wärme fühlen und hervorbringen.
Nach welchen Kriterien wählen Sie die Klavierwerke aus, die Sie aufführen und einspielen?
Es hängt von vielen Faktoren ab, daher ist es auch für mich immer spannend zu sehen, was ich als nächstes nehme. Natürlich gibt es musikalische und musikhistorische Zusammenhänge, die sehr genau überlegt sind. Es ist ein Fluss. Es gibt Zusammenhänge, die von außen vielleicht nicht sichtbar, für mich aber klar fühlbar sind.
Erst wenn ich ein Programm abgeschlossen habe, weiß ich, was das nächste Programm sein wird. Ich kann nicht drei oder vier CDs planen und eine nach der anderen aufnehmen und üben.
Es gibt auch Einflüsse von außen, zum Beispiel als Corona kam, wusste ich genau, das Programm muss jetzt so sein, dass es vielen Menschen gut tut und Trost gibt. So entstand die CD „kNOWn Piano“.
Das entscheidende Kriterium ist für mich die jeweilige innere Erlebens- und Ausdruckswelt eines Komponisten, eines Stücks, die mich herausfordert und anzieht, fast sogar zwingt. Im Moment ist das Robert Schumann.
Ihre neue CD, die im Juli 2022 erschienen ist, konzentriert sich auf russische Komponisten: Mussorgsky, Skrjabin, Rachmaninoff und das mitten im Ukraine-Krieg, den Sie bei Ihrer Planung nicht vorhersehen konnten.
Wie war die Resonanz auf die Veröffentlichung russischer Komponisten vor dem Hintergrund der allgemeinen Diskussion zur Aufführung russischer Künstler?
Mit dem Ukraine-Krieg änderte sich der Hintergrund der Veröffentlichung komplett. Als ich die CD „Russian Piano Forte“ geplant hatte, konnte niemand an einen Krieg denken.
Ich habe am Anfang, vor allem bei den Streaming-Diensten gemerkt, dass die Reaktionen verhalten waren.
Letztendlich finde ich es sogar sehr gut, dass die CD gerade in dieser Zeit herausgekommen ist. Man kann und sollte differenziert sehen: Russland und die Russen sind nicht alle gleich, wie sonst überall auch – das muss sehr genau differenziert werden, und man sollte genau darauf achten, dass man nicht in den großen Meinungsfluss der Vorurteile hineingerät und davon mitgerissen wird.
Ihre neuen Projekte sind 2 Schumann CDs. Eine ist bereits aufgenommen, die zweite in Vorbereitung. Warum jetzt Schumann?
Schumann ist ein ganz besonderes Thema. Schumann ist wunderbar in seiner tiefen Empfindungsfähigkeit und klaren, doch freien kompositorischen Struktur. Er macht nie einen Kompromiss. Viele hören gerne Schumann, aber für mich bedeutet Schumann nochmal etwas ganz anderes: Er stellt eine besondere Welt dar, und bewegt sich immer auf dem Herzensgrund. Seine Sprache ist deswegen so stark und berührt uns.
Ich merke, um Schumann zu spielen, brauche ich eine ganz andere Kraft
Als es mir nicht so gut ging, hatte ich nicht die Kraft, Schumann zu spielen und habe ihn zeitlich nach hinten geschoben. Jetzt war die Zeit reif und ich bin sehr zufrieden, wie ich für diese Herausforderung gewachsen bin. Ich hoffe, dass das, was ich durch diese Musik erlebe, auch für die Zuhörer erlebbar ist.
Sie sagen „Der Klang der Musik bringt die Seele zum Atmen. In diesem Atmen höre ich den gewaltigen Klang der Stille“. Was bedeutet Stille für Sie und Ihr Spiel?
Stille ist für mich die absolute Musik. In der Stille ist die gesamte Musik drin. Mein Spiel ist nur ein kleiner Teil, der in dieser Stille stattfindet. Nur in der Stille kann die Musik hörbar werden, so wie der Raum auch nur durch die Dinge, die in ihm sind, erfahrbar wird.
Klang und Stille sind untrennbar. Ohne Stille hätten wir keinen Klang. Ich versuche, diesen Zusammenhang darzustellen, denn Stille kann man eigentlich nicht darstellen, sie ist allgegenwärtig.
Sie kennen viele Konzertsäle. Welcher Konzertsaal ist für Sie der Ort, an dem Ihr Klavierspiel am besten zur Geltung kommt und in dem Sie gerne ein Konzert geben würden?
Ich habe früher viele Konzertsäle kennengelernt. Aber meine Ohren haben damals anders gehört; meine Prioritäten waren damals andere. Ich glaube, dass ich heute Konzertsäle anders beurteile und ich wünsche mir einen Konzertsaal, der intim ist. Damit meine ich nicht klein. Ich meine die klangliche Intimität für den Zuhörer. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Konzertsaal, der ähnlich wie in mancher Kirche eine sehr gute Akustik und Intimität zugleich bietet, so wie die Christus-Kirche in Berlin, Dahlem, wo ich Bach und Beethoven aufgenommen habe.
Herzlichen Dank für dieses Interview. Wir konnten so nicht nur Ihr Klavierspiel, sondern auch Ihre Persönlichkeit kennenlernen – beide faszinieren. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und Konzertsäle, die Ihre Zuschauer erleben lassen, was Sie bewegt.
Fotografien © Uwe Arens