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SERHIJ ZHADAN – PREISTRÄGER DES FRIEDENSPREISES DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

SERHIJ ZHADAN – PREISTRÄGER DES FRIEDENSPREISES DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

Die GloriousMe Leseempfehlung

Mittendrin im Krieg gegen die Ukraine: Mit scheinbar leichter Feder poetisch geschrieben, treffen die Werke von Serhij Zhadan mitten ins Herz

Warum Serhij Zhadan?

Im Vorwort zu seinem Gedichtband „Antenne“ schreibt Serhij Zhadan „Der ständige Wunsch, die eigene Begeisterung zu teilen, er ist es, der dich zwingt, nach Wörtern zu suchen, sie umzustellen, Wörter zu plündern wie Vogelnester, sie zu schütteln, sie auf den Kopf zu stellen“.

Wir haben schon viele Bücher von Preisträgerinnen oder Preisträgern der anerkanntesten Literaturpreise gekauft, neugierig darauf, wen hochkarätig besetzte Jurys als würdigen Preisträger auf Platz 1 gesetzt haben. 

Einige der Bücher haben wir nach wenigen Seiten enttäuscht zur Seite gelegt, durch manche haben wir uns weiter gequält, dann aufgegeben und das hochdekorierte Buch verschenkt, auf das ein anderer Leser es womöglich würdigen möge.

Bei Serhij Zhadan ist es anders. Der ukrainische Fotokünstler Kirill Golovchenko hatte uns auf Serhij Zhadan aufmerksam gemacht. Die Erlöse seiner Benefiz-Ausstellung gehen als Spende an die Hilfsorganisation von Serhij Zhadan in der Ukraine.

Wir haben vier Werke von Serhij Zhadan gelesen und sind begeistert.

Die beiläufige Kraft seiner Worte, die Poesie, seine Fähigkeit, Gefühle auszudrücken und den Leser in die Geschichten zu ziehen und nicht mehr loszulassen, haben wir so schon sehr lange nicht mehr gelesen. Ein großer Dank an die offensichtlich hervorragenden Übersetzer seiner Werke im Suhrkamp Verlag.

Wenn Sie nur einen Roman schaffen: Internat von Serhij Zhadan

Ist Ihre Zeit so knapp bemessen, dass es Ihnen gelingt, nur einen Roman von Serhij Zhadan zu lesen, dann empfehlen wir das Buch: Internat.

Internat wurde 2017 veröffentlicht und handelt vom Krieg gegen die Ukraine, der in den östlichen Teilen des Landes bereits 2014 begann und den die meisten von uns schlichtweg ignoriert haben. Der Roman hat leider nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil.

Der Lehrer Pascha glaubt, sich heraushalten zu können. Er interessiert sich nicht für Politik, er steht auf keiner Seite, möchte nur seinen Beruf als Lehrer gut erfüllen und seinen Schülern Geschichte und die ukrainische Sprache beibringen. Warum sollte man ihn angreifen? Warum sollte er einen Standpunkt beziehen?

Bis zu dem Moment, in dem das Internat, in dem sein Neffe untergebracht ist, plötzlich im umkämpften Gebiet liegt. Er entschließt sich, seinen Neffen aus dem Kriegsgebiet nach Hause zu holen und ist plötzlich mittendrin im Krieg, von dem er glaubte, er würde ihn nicht betreffen.

Serhij Zhadan lässt uns mitlaufen. Vom kleinen Bahnwärterhäuschen, in dem der Lehrer mit seinem Vater lebt zum nächsten Bahnhof, in dem Menschen Schutz vor Explosionen und Exekutionen gesucht haben und von dem schon lange kein Zug mehr in die Sicherheit abfährt. 

Jeder Meter kann Gefahr bedeuten, jeder Soldat kann Freund oder Feind sein, es fällt Pascha schwer, die Uniformen und Abzeichen auseinander zu halten. Jede falsche Bewegung, das Zurechtrücken der Brille kann als intellektuelle Arroganz oder Hilflosigkeit gedeutet werden und das Ende bedeuten. 

Er trifft auf einen Taxifahrer, der wie ein Kamikaze überwachsene Feldwege entlangjagt, überzeugt davon, dass diese noch nicht vermint sind. 

Er schließt sich dem ehemaligen Bahnhofsvorsteher an, der gegen Entgelt eine kleine Truppe über Flüsse, dornennbewachsene Abhänge seinem Ziel, dem Internat, etwas näher bringt. Zusammen mit einem Großvater, der seine Enkelin in Sicherheit bringen will, einer Staatsangestellten, die keine Zeit hatte, ihre hochhackigen Schuhe vor der Flucht zu wechseln, einer Frau, die ihr Silber im Rucksack zu retten versucht und einem Teenager, die einen leeren Rollkoffer über Stoppelfelder schleppt.

Jeder mißtraut jedem. Jeder nimmt sich vor: Kein Mitleid mit Niemandem. Und doch kümmert man sich um den Großvater, der auf der Flucht erkrankt und sucht in zerbombten Häuserschluchten und in großer Angst vor dem nächsten Panzer, der um die Ecke biegt, nach einem Arzt für ihn.

Seit dem 24. Februar 2022 erreichen uns viele Erfahrungsberichte und Tagebücher der Menschen in der Ukraine. Aber es ist die großartige literarische Sprache von Serhij Zhadan die tiefer geht, die uns die Angst des Lehrers Pascha spüren lässt in den drei Tagen, in dem er zum Internat seines Neffen unterwegs ist.

Auf jeder Seite des Romans Internat fragen wir uns, wie lange wir wohl in diesem Krieg überleben könnten?

Wenn Ihre Zeit selbst für das Lesen eines Romanes nicht reicht, dann verschenken sie Internat. An jeden, der das Glück hat, den Krieg bislang nur aus den Tagesthemen zu kennen. Im Gegensatz zu den Werken beispielsweise von Herta Müller, die kaum einen Hoffnungsschimmer übrig lassen, spricht aus dem Werk von Serhij Zhadan ein große tröstliche Menschlichkeit, trotz alledem.

Warum ich nicht im Netz bin von Serhij Zhadan

In diesem Band sind Gedichte und Erzählungen von Serhij Zhadan zu finden, die Erlebnisse auf seinen Reisen in die ostukrainischen Kriegsgebiete schildern. Die Gedichte sind mit einer Leichtigkeit geschrieben, die das Lesen atemlos macht.

Man jagt förmlich über die Seiten hinweg und ist traurig, das Ende des Buches plötzlich erreicht zu haben.

Serhij Zhadan gelingt, was bei vielen Politikern zur gern genutzten Phrase geworden ist: Nah bei den Menschen zu sein, in Worte zu kleiden. Seine Worte sind stets unpathetisch, fast beiläufig aber nie banal. Genaus das macht sie spannend und rar im Literaturbetrieb.

Für alle, die es nur am späten Abend schaffen, kurz in ein Buch zu blicken, bevor sie der Schlaf übermannt, empfehlen wir diesen Band.

Mesopotamien von Serhij Zhadan

Das Buch zeichnet ein Porträt der Stadt Charkiw, in der Serhij Zhadan der 1974 in Strobilsk, im Gebiet Lunhansk geboren wurde, lebt.

Ähnlich wie im früheren Mesopotamien, dem Zweistromland, das aufgrund seiner Fruchtbarkeit immer wieder den Ehrgeiz unterschiedlicher Herrscher entfachte und in dem verschiedensten Ethnien zusammen lebten, liegt Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine an zwei großen Flüssen.

Im Roman ist Charkiw ein Ort, an dem geliebt und betrogen wird, an dem verzweifelt und gehofft wird und an dem alle Menschen unendlich müde sind vom Krieg und vielen zerstörten Träumen.

Es ist chaotisch, es ist laut und man hält sich an die Gepflogenheiten, von denen man glaubt, dass sie bei Hochzeiten und Beerdigungen eingehalten werden sollten, findet Trost in der Gemeinsamkeit über ein paar Stunden hinweg und stolpert wieder zurück in die Realität.

Serhij Zhadan beschreibt all die Schwächen und Träume seiner Figuren mit so viel Menschenkenntnis und Humor, das man nicht anders kann, als sich für die Dauer des Romans mit ihnen im Strudel des Lebens einzufinden, bevor man nach der letzten Seite verwundert wieder in der eigenen Realität auftaucht.

Siehe auch
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Antenne von Serhij Zhadan

Würde Franz Schubert heute nach Texten für die Komposition seiner Winterreise suchen, er würde die Gedichte von Serhij Zhadan vertonen.

In diesen Gedichten und Texten ist die Trauer Serhij Zhadans über den Tod seines Vaters zu lesen und jeder, der einen solchen Verlust erlitten hat, wird sich in den Gedichten wiederfinden. 

Und wieder ist es der Krieg, auf den wir in diesem Band treffen, der wie ein düsteres Leitmotiv gegenwärtig ist und die Menschen nahezu ungläubig beobachten lässt, dass es dennoch Sommer wird, dass sich Studenten verlieben und dass der Winter die Landschaft wieder mit Schnee bedeckt.

Dichter und Musiker

Serhij Zhadan ist nicht nur ein ausgezeichneter Schriftsteller sondern auch seit 20 Jahren Frontman einer Band, die im Moment für Soldaten, in U-Bahnhöfen und vielen anderen Orten in der Ukraine spielt. 3Sat Kulturzeit hat Serhij Zhadan jüngst bei einem Konzert in Frankfurt am Main interviewt. 

Sonntag, 23. Oktober 2022, 10.45 Uhr ARD

Die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels findet am 23. Oktober 2022, traditionsgemäß in der Frankfurter Paulskirche statt und wird ab 10.45 Uhr live in der ARD übertragen.

Rund um diesen Termin werden die Feuilletons sicherlich ausführlich über diesen Ausnahmeschriftsteller berichten. Als GloriousMe Leser haben Sie vielleicht bis dahin schon längst eines oder mehrerer seiner Bücher gelesen.

Entscheidung in Kiew

Wenn Sie zudem die Geschichte der Ukraine einordnen möchten und ein Gefühl dafür bekommen möchten, wie die Ukraine zu dem Land wurde, das es heute ist, dann empfehlen wir Ihnen abschließend noch das Buch Entscheidung in Kiew des Historikers Karl Schlögel.

Dann wird Ihnen schlagartig klar, warum uns die Namen der ukrainischen Städte wie Kyiv, Odessa, Charkiw, Lemberg, Cernowitz und andere so sehr vertraut sind. Wir kennen sie bereits aus den dunkelsten Zeiten deutscher Gesichte. Ihre Namen wurden in den damaligen Wochenschauen oft genannt.

Der Untertitel des Buches lautet: Ukrainische Lektionen.

Portrait Serhij Zhadan © Oleksandr Rupeta, Alamy Stock Foto 

 

 

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