Wir sind alle Risikomanager geworden
Noch nie hat das Thema Risiko in unserem Leben einen so hohen Stellenwert eingenommen, dabei fehlt den meisten von uns aus Sicht von Risikoforschern im Alltag die Risikokompetenz. Wie lässt sich der Blick schärfen?
Corona-Shutdown
BY THE EDITOR // KARIN M. KLOSSEK
Im Geschäftsbericht der Deutschen Bank 2019 nimmt der Risikobericht mit 127 Seiten volumenmäßig den größten Umfang der Berichterstattung ein. Was für ein internationales, am Aktienmarkt gelistetes Unternehmen selbstverständlich ist, beherrscht mittlerweile unserer Alltag:
- Wir wechseln etwas früher die Straßenseite, weil wir die Entgegenkommenden als Risikogruppe einschätzen.
- Wir verfolgen die Liste der Risikoländer und wagen nicht mehr, einen Urlaub langfristig zu planen.
- Wir überlegen dreimal, ob wir Familie einladen, weil wir selbst kein Risiko für andere darstellen möchten.
- Wir unterstützen Geschäfte, deren Inhaber und Waren wir schätzen, in einem Umfang den wir eigentlich nicht benötigen, weil wir das Risiko eines allzu großen wirtschaftlichen Schadens reduzieren möchten.
- Wir wägen unter neuen Kriterien ab, ob wir für einen Geschäftstermin den Zug oder das Auto nehmen.
Keine Kompetenz für Risiken
Forscher zum Thema Risiko weisen schon lange darauf hin, dass die überwiegende Mehrzahl von uns keine Risikokompetenz besitzt. Die Gründe dafür sind vielfältig:
Die Rationalität wird bei vielen Abwägungen und Entscheidungen von Emotionen überlagert. Kommt dazu noch Stress, verschwindet die Rationalität fast vollständig. Der Homo oeconomicus existiert nicht.
Egal, welche Ausbildung wir genossen haben, vermittelt werden in der Schule Sicherheiten: Klare Regeln, Ableitungen, gesicherte Erkentnisse. Der Umgang mit Unsicherheiten steht selten auf dem Lehrplan.
Veröffentlicht eine Studie die Warnung, dass nach Einnahme eines neuen Medikamentes die Thrombose-Gefahr um 100 Prozent steigt, da von 7000 Patienten nach Einnahme von Medikament A eine Person an Thrombose erkrankte und beim neuen Medikament B zwei Personen daran erkrankten, so beträgt die absolute Risikozunahme 1 von 7000 während die relative Risikozunahme tatsächlich bei 100 Prozent liegt.
Die wichtige Unterscheidung von absoluter und relativer Risikozunahme fällt meistens unter den Tisch. Die größere Zahl bleibt haften.
„Den meisten Menschen bereit es Schwierigkeiten, mit Wahrscheinlichkeiten zu rechnen. In Untersuchungen zeigt sich, dass Probanden mit einer Aussage wie „dieses Ereignis tritt im Schnitt alle 5 Jahre ein“ deutlich mehr anfangen können, als mit der inhaltlich gleichen Aussage, „die jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit liegt bei 20 Prozent“ (Deutsche Bank Research). Die meisten Nachrichten, bis hin zur täglichen Wettervoraussage, arbeiten jedoch mit Eintrittswahrscheinlichkeiten.
Von Äpfeln und Birnen
Risikoforscher sprechen auch von einem Relativitäts-Phänomen. Dinge, die nicht in einer unmittelbaren Beziehung stehen, werden miteinander verknüpft. Während für den Kauf eines Füllfederhalter im Wert von US Dollar 25 die meisten Befragten zu einer fünfzehnminütigen Fahrt in ein anderes Geschäft der Stadt bereit wären, wenn sie so US Dollar 7 sparen könnten, wäre beim Kauf eines Anzuges für US Dollar 455 kaum jemand bereit, eine fünfzehnminütige Fahrt auf sich nehmen, um die gleiche Ersparnis von US Dollar 7 zu erzielen.
Die Ersparnis wird in Relation zur Ausgabe betrachtet, eigentlich müsste sie relativ zu der jeweils fünfzehnminütigen Fahrt durch die Stadt gesehen werden
Werden Menschen danach gefragt, Wahrscheinlichkeiten von Ereignisse einzuschätzen, so suchen sie in ihrem Gedächtnis nach entsprechenden Beispielen. Je präsenter die Erinnerung ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt. Sind dabei noch Emotionen oder Angst im Spiel, werden Risiken in der Regel viel zu hoch eingeschätzt.
Der Ergo-Risikoreport beschäftigt sich mit der Einschätzung von Privatpersonen zu Risiken wie beispielsweise der Gefahr, im Alter an Demenz zu erkranken oder bei einem Online-Kauf Opfer eines Betrugs zu werden. Er kommt zu dem Schluss, dass die Risiken bei nahezu allen Fragestellungen falsch, nämlich zu hoch, oder deutlich zu hoch eingeschätzt werden. Lediglich die Frage nach den Risiken des Rauchens beantwortet etwa die Hälfte der Befragen korrekt.
Angst reduziert unsere geringe Kompetenz, Risiken einzuschätzen
In den Monaten nach den Terrorannschlägen von September 2011 in New York stieg die Anzahl der Autofahrten auf den Straßen des Fernverkehrs in den USA um bis zu 5 Prozent an. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer hat in seinen Vorträgen die folgende Frage gestellt: „Nehmen Sie an, Sie leben in New York und möchten nach Washington reisen. Sie haben nur ein Ziel: Lebend anzukommen.
Wie viele Kilometer müssten Sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genau so hoch wäre wie bei einem Nonstop-Flug? Die Antworten lauteten 1000 Kilometer, 10.000 Kilometer und mehr. Dabei beträgt die korrekte Risikoeinschätzung: 20 Meter. Wenn Sie mit ihrem Auto heil am Flughafen ankommen, haben Sie den gefährlichsten Teil Ihrer Reise wahrscheinlich schon hinter sich.“
Risikokompetenz wird wichtiger
Je komplexer die Themen, desto schwieriger fällt uns die Einschätzung von Risiken. Damit steigt die Anforderung an unsere Fähigkeiten, Risiken einzuschätzen und zu hinterfragen. Oft stehen hinter einer großen Zahl klare Interessen und je verkürzter eine Kommunikationsbotschaft ist, desto eher wird der Hinweis „vergessen“, ob sich die Zahlen auf das absolute oder relative Risiko beziehen.
Auch die Befürchtung, verklagt zu werden, steht hinter so mancher Aussage, vergleichsweise geringe Risiken dramatischer als notwendig zu schildern.
Eine gewisse Übung im Hinblick auf statistische Relationen wäre im Alltag hilfreich, meinen Risikoforscher und weisen darauf hin, dass eine hohe Resilienz hilft, Ängste abzubauen und damit Entscheidungen mit weniger Angst zu treffen.
Ironie des Schicksals?
Janan Ganesh, der Kolumnist der Financial Times beschreibt in „COVID-19 and the case aginst caution“ ein Gespräch mit einem Freund. Beide kommen zu dem Schluss, dass sie (mit 38 Jahren) bereits so viel von der Welt gesehen und erlebt hätten, dass sie nichts bedauern müssten, nicht unternommen zu haben, sollte der bedauerliche Fall eintreten, dass COVID-19 ihr Leben beenden würde.
Beide stellen auch fest, dass es das erste Mal im Leben sei, dass sie sich eine solche Frage gestellt hätten.
Ironie des Schicksals? In einer Zeit, in der wir alle zu Risikomanagern geworden sind, werden wir gleichzeitig dafür belohnt, dass wir uns in früheren Jahren tendenziell eher für das Risiko entschieden haben. Wir denken an Reisen und andere Erlebnisse oder Entscheidungen zurück, in denen wir Risiken eingegangen sind und betrachten sie nun als Schatz der Erinnerungen, der uns hilft, in diesen Zeiten, in denen diese Dinge nicht möglich sind, gelassener zu bleiben.
Aus Sicht von GloriousMe
Es spricht viel dafür Risiken, insbesondere für andere, zu vermeiden. Keine Frage.
Wir sollten jedoch achtsam sein, dass COVID-19 nicht als willkommenes Argument dient, Alter noch stärker als bisher, zu diskriminieren — sei es im Alltag oder im Beruf. Das ist nur eine Gefahr. Internationalität und Offenheit stehen ebenfalls auf dem Spiel.
Die Sensibilität zu erkennen, in welchen Fällen Risikoreduzierung nur als Vorwand für andere Ziele benutzt wird, sollten wir bewahren, vielleicht sogar schärfen. Schließlich geht es um nichts mehr als die Gesellschaft, in der wir alle heute und zukünftig leben möchten.
Sich ein wenig intensiver mit dem Verständnis von Wahrscheinlichkeiten zur Einschätzung von Risiken zu beschäftigen tut uns sicherlich allen gut und da Angst und Stress die rationale Einschätzung stark beeinflussen, lohnt es sich immer, den eigenen Resilienzspeicher aufzufüllen, der uns hilft, mit Stress ohne nachteilige Folgen umzugehen.
Das geht mit Optimismus, Genuss und Ruhefähigkeit, Achtsamkeit sowie einer gesunden und ausgewogenen Lebensführung in puncto Ernährung, Schlaf und Sport. Selbst die einfache Übung des bewussten Atmens hilft in besonders stressigen Zeiten. Somit sind Sie bei GloriousMe genau richtig.