Die Kraft des Waldes
In Japan beschäftigen sich Wissenschaftler seit Jahrzehnten mit der heilenden
Wirkung des Waldes. Shinrin-yoku, das bewusste Erleben des Waldes,
ist in Japan und Südkorea weit verbreitet. Dort gibt es Waldtherapien und
einen Zweig der Medizin, der sich mit den Auswirkungen des Waldes auf
den Menschen beschäftigt.
Zahlreiche Untersuchungen japanischen Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein bewusstes Eintauchen in den Wald eine Reihe von Gesundheitseffekten hat, die insbesondere dem Abbau von Stress, dem Erlangen von innerer Ruhe und der Stärkung des Immunsystems dienen.
In vielen Gegenden Europas lässt sich ein Wald relativ problemlos erreichen. Was spricht also dagegen, es selbst auszuprobieren. Dabei ist folgendes zu beachten:
1. NO ELECTRONIC DEVICES
Lassen Sie Ihre elektronischen Geräte, Ihr Telefon, Ihre Kamera oder Ihr Pad zu Hause. Jeder Blick auf den Bildschirm führt genau zu dem Gegenteil dessen, was Sie durch Shinrin-yoku erreichen möchten.
Bei Shinrin-yoku kommt es darauf an, den Wald mit allen Sinnen zu erleben. Auch die Erfahrung, in sich hinein zu spüren, welchen Weg Ihr Inneres einschlagen möchte, gehört dazu.
Ein kleines Waldstück genügt. Sie müssen nicht gleich in einem riesigen Waldgebiet beginnen, aus dem Sie möglicherweise nur mit Hilfe eines GPS Systems wieder herausfinden würden.
2. RUHE
Den Wald erfährt man am einfachsten allein, nur auf sich selbst achtend. Wenn Sie zu zweit oder sogar in einer kleinen Gruppe den Wald erfahren möchten, sollten Sie zuvor Regeln verabreden, beispielsweise dass sie sich nicht unterhalten und im Wald entsprechenden Abstand halten.
Ruhe in einem Waldstück nahe einer Stadt zu finden, ist nicht immer leicht, denn auf Jogger, Mountain-Biker und Wandergruppen trifft man hier unentwegt. Versuchen Sie daher abseits von „Rennstrecken“ Ihr Glück, gehen Sie zu ungewöhnlichen Tageszeiten oder bei eher unwirtlichem Wetter in den Wald – so haben Sie eine größere Chance, allein zu sein.
Lichte Mischwälder eignen sich für den Einstieg am besten. Nach einer Weile merken Sie, welche Bäume Sie instinktiv bevorzugen. Das kann das frische Grün von Buchenwäldern sein. Manche Menschen fühlen sich zu Eichenbäumen hingezogen, andere bevorzugen Nadelwälder mit ihrem hohen Anteil an ätherischen Düften.
3. SINNE
Versuchen Sie den Wald mit möglichst vielen Ihrer Sinne zu erfahren. Lassen Sie Ihre Augen über Baumrinden, Moose, Pilze, die jungen Waldtriebe im Waldboden und die Kronen der Baumspitzen wandern. Lassen Sie Ihrem Blick Zeit, Strukturen zu erkennen.
Atmen Sie bewusst und lassen Sie die Düfte des Waldes auf sich wirken. Riecht der Wald nach Kräutern oder nach Pilzen? Erfassen Sie die ätherische Öle der Nadelbäume oder den leicht modrigen Geruch von Herbstlaub. Je nach Jahreszeit und Tageszeit werden Sie über die Vielzahl der Eindrücke überrascht sein.
Suchen Sie sich einen Sitzplatz auf einer kleinen Waldlichtung und hören Sie in den Wald hinein. Versuchen Sie möglichst lange geräuschlos zu sitzen, um das Knacken der Äste, das Rascheln von Tieren, und im Herbst das Rascheln und Fallen von Blättern zu hören.
Spüren Sie mit Ihren Händen die knorrige Rinde eines Baumes, die Weichheit von Blättern, die dichte Struktur von Moosen. Fühlen Sie den Tau, Frost oder die Regentropfen auf den Blättern und Ästen. Spüren Sie, wie der weiche Waldboden unter Ihren Füßen nachgibt.
4. SIE
In diesem Moment ist nur Eines wichtig: Sie. Versuchen Sie nicht, Shinrin-yoku „abzuarbeiten“, eine bestimmte Strecke im Wald hinter sich zu bringen oder eine vorab definierte Zeit im Wald zu verbringen.
Es können 10 Minuten oder auch Stunden sein. Wichtig ist die Erfahrung, sich ausschließlich auf die Erfahrung des Waldes zu konzentrieren, sich ausnahmsweise nicht unter Druck zu setzen, sondern zu versuchen, lediglich im Hier und Jetzt sich selbst im Austausch mit dem Wald zu erleben.
5. BAUM
Nicht immer erlaubt es unsere Zeit, ein Waldstück aufzusuchen. Die Kraft des Waldes können Sie bereits an einem einzelnen Baum spüren. Suchen Sie sich einen Lieblingsbaum in Ihrem Park.
Versuchen Sie, die Nähe des Baumes zu erspüren, berühren Sie die Rinde, setzen Sie sich unter den Baum und lehnen Sie sich an den Baumstamm. Verbringen Sie unter der Baumkrone Zeit, atmen Sie bewusst, schließen Sie die Augen und konzentrieren Sie sich auf die Geräusche des Baumes und des Windes.
Nach einer Weile spüren Sie, dass Sie einen Teil der Kraft des Baumes aufnehmen. Der Effekt ist nicht mit dem Eintauchen in einen Wald zu vergleichen, aber selbst ein einzelner Baum im Park kann einen Teil von Shinrin-yoku vermitteln und Sie kehren gestärkt in den Alltag zurück.
Erich Kästner beschreibt die Kraft des Waldes in seinem wunderbaren Gedicht „Die Wälder schweigen“ und schreibt zu Beginn „Man zählt die Tage. Und man zählt die Gelder. Man sehnt sich fort aus dem Geschrei der Stadt“. Er beendet sein Gedicht mit „Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm. Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden“.