Sie lesen
“ALLES IST TEURER ALS UKRAINISCHES LEBEN”

“ALLES IST TEURER ALS UKRAINISCHES LEBEN”

 

Texte über Westsplaining und den Krieg

Texte wie Tornados. Traurig, wütend, stolz und schonungslos. Es lohnt sich, sie zu lesen.

 

Haben wir uns an den Krieg gegen die Ukraine gewöhnt?

Nur prominente ukrainische Todesopfer schaffen es noch, im Sportteil der Zeitung oder im Feuilleton erwähnt zu werden: Der Fechter Denys Boreyko, der Eiskunstläufer Dymtro Sharpa, beide erfolgreiche Sportler auf internationaler Ebene. Sie gehören zu den 262 getöteten Sportlern, die, Stand April 2023, nach Angaben des ukrainischen Sportministers seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine getötet wurden.

Ebenso wie der Tänzer Vadym Khlupianets, der Zehnkampfmeister Volodymyr Androshchuk und die Schriftstellerin Victoria Amelia, die mit Beginn des Krieges das Schreiben von Kinderbüchern ruhen lies und stattdessen begann Kriegsverbrechen für die Organisation Truth Hounds zu dokumentieren. 

Sie hatte ein Stipendium in Frankreich erhalten, um ihre Dokumentation „War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War“ fertigzustellen. Kurz bevor sie es antrat, begleitete sie eine Gruppe von Schriftstellern aus Kolumbien nach Kramatorsk.

Dort wurde die Pizzeria, in der die Gruppe von Literaten und Kriegsdokumentaristen zu Abend gegessen hatte von russischem Militär bombardiert und zerstört. 

Victoria Amelia war unter den Opfern und erlag wenig später im Krankenhaus ihren Verletzungen. Über ihren Tod wurde in den Feuilletons von Washington bis Zürich berichtet.  

In der Neuen Zürcher Zeitung berichtet der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad über den letzten gemeinsamen Abend in Kramatorsk unter dem Titel: „Vor einer Woche hat eine Iskander Rakete der Russen die ukrainische Schriftstellerin Viktoria Amelia vor meinen Augen getötet. Ich schulde es der Gerechtigkeit, über dieses Verbrechen zu schreiben“

Wer mehr über diese beeindruckend optimistische, humorvolle, engagierte junge Frau erfahren möchte, empfehlen wir den Nachruf des Guardian. Darin wird auch ihr Essay „I was the worst investment the Russians ever made“ publiziert. 

Wir wollten mehr von dem lesen, was Victoria Amelina geschrieben hatte und waren so auf die Sammlung der Texte „ALLES IST TEURER ALS UKRAINISCHES LEBEN“ gekommen.

Literaten, Journalisten, Künstler, Geschichtswissenschaftler

Das sind die Autoren, die in ihren Texte beschreiben, dass die grauenvollen Opfer, die Ukrainer und Ukrainerinnen täglich im Kampf gegen die russische Aggressionen erleiden, immer weniger Beachtung finden.

Viele Menschen blenden den Krieg aus oder scheinen sich damit arrangiert zu haben, dass die Ukraine für ihre Freiheit und die Freiheit des Westens kämpft. Selbst Akzeptanz für die Selbstbestimmung und den Wunsch der Ukraine, dem Westen anzugehören, ist oft schon zu viel verlangt.

Ein Grund dafür sehen einige der Autoren in der nahezu vollständigen Dominanz Russlands in den Studiengängen der Slawistik. Bis heute gibt es kaum einen Lehrstuhl, der sich mit der Ukraine befasst. 

Die vielen negativen und herabsetzenden Narrative, die Russland seit Jahrzehnten  über die Ukraine kommuniziert, waren effektiv und führten zu weit verbreitetem fehlendem Respekt gegenüber diesem „eigenartigen Bauernland“.

Insbesondere in Deutschland verzeichnen die Autoren ein Geschichtsverständnis, dass die Ukraine und deren Opfer in vielen Jahrzehnten schlichtweg ignoriert. „Never again“ schien und scheint nicht für die ukrainischen Opfer der vergangenen Kriege und der Gegenwart zu gelten. 

In naiver Weise glaubt man vielfach noch an die warme russische Seele und ignoriert die konsequente Militarisierung der russischen Gesellschaft und die klar formulierten imperialistischen Ansprüche, die der Kreml seit Jahrzehnten unmißverständlich formuliert und vorantreibt. Die russischen Grausamkeiten in Tschetschenien, Georgien, Transnistrien, Syrien und vielen anderen Ländern wurden und werden schlichtweg ignoriert.

Der amerikanische Professor für Geschichte Timothy Snyder formuliert es so „Geschäfte mit Moskauer Autokraten waren (in Deutschland) durch den Zweiten Weltkrieg moralisch gerechtfertigt. Die Ukrainer wurden als Störenfriede betrachtet, die sich dieser Geschichte in den Weg stellten.“

„Russland hat Dich nicht berührt“

Die Autoren wehren sich in vielen ihrer Texte gegen viele sogenannte Fachexperten, die in Talkshows, Artikeln und offenen Briefen aus gesicherter westliche Position heraus glauben, der Ukraine Ratschläge geben zu können, wie sie sich verhalten solle, welche Gebiete sie aufgeben solle und warum sie mit dem Aggressor verhandeln solle und worüber.

Der polnische Schriftsteller und Publiziert Szczeon Twardoch meint: „Liebe westdeutsche Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland. Russland hat euch nie berührt, weder euch noch eure Vorfahren. Ihr versteht es nicht – noch weniger versteht ihr Osteuropa – denn während Russland euch faszinieren mag, unsere Zubowkas und Ruritaniens bleiben für euch immer eine terra nullius.“

„Hört endlich einmal auf Polen, Litauen, Lettland, Estland, alles Länder, die ihre „skin in the game“ haben, Russlands unglückliche Nachbarn, in deren familiärer und kollektiver Erinnerung sehr drastisch gespeichert ist, was das bedeutet – Russki Mir.“

Westsplaining explained

Mit dem Begriff Westsplaining wird die „grundsätzlich überhebliche, aber ignorant-ahnungslose Blickweise“ vieler Menschen in Westeuropa und Amerika „auf Zentral- und Osteuropa im Allgemeinen“ und ihre „Position des Besserwissers, die immun scheint gegenüber dem Leid und dem Kampf der Ukrainer:innen im Besonderen“ bezeichnet.

In den Texten werden die Kriegsverbrechen, die in der Ukraine begangen worden und jeden Tag weiter stattfinden mit klaren Worten geschildert. Diese deutliche Beschreibung scheint notwendig, denn allzu schnell wird ein Nachrichtenbeitrag, der lediglich über Kriegsverbrechen spricht, übergangen und löst keine Reaktion aus.

Der Gedenkgottesdienst Victoria Amelina in Kiew, im Juli 2023 © Sopa Images, Alamy Stock Foto

Die Menschen in den baltischen Staaten, so die Autoren, wissen genau wovon sie reden, wenn sie über die Machtansprüche und die Grausamkeiten Russlands sprechen. Viele selbsternannten Experten haben ihrer Ansicht nach hingegen keine Ahnung.

Siehe auch

All diese schwierigen Themen sowie die Frage, ob ukrainische Autoren weiter in der russischen Sprache schreiben können und welche Haltung zu russischen Künstlern angemessen ist, werden in intelligenten, humorvollen, geschichtlich fundierten Texten beschrieben, die allesamt lesenswert sind.

Aktueller denn je

Die Mehrzahl der Texte wurde im Jahr 2022 verfasst, sie sind leider aktueller denn je. Der Versuch Russlands, die ukrainische Kultur, die man als nicht existent erklärt, Stück für Stück zu vernichten geht erbarmungslos tagtäglich weiter. Der Begriff Genozid ist angebracht.

„Ukrainische Leben, Gemälde, Museen, Bibliotheken, Kirchen und Manuskripte brennen. Sie brennen jetzt.“

Die Teilnehmer des NATO-Gipfels am 11. und 12. Juli 2023 in Vilnius erklärten ihre Solidarität mit der Ukraine, aber nicht mehr. 

„Der Westen meint heute, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden – vielleicht trifft das zu. Aber unsere Intuition, unsere educated guess, basierend auf hundertjähriger Erfahrung, legt doch nahe, dass dieser Krieg bereits begonnen hat und es kein Zurück in die Welt davor gibt. Das heisst natürlich nicht, dass es die Lösung wäre, jetzt Nato-Truppen in die Ukraine zu schicken, es bedeutet nicht, dass man eine Eskalation nicht vermeiden sollte. Es reicht schon, sich zu sagen: Die Nato steht im Krieg mit Russland. Diesen Krieg muss jemand verlieren. Wir hier, in Osteropa, würden es vorziehen, wenn dieser Jemand das alte Russland ist.  Szczepan Twardoch

Und selbst dann, so fürchten viele Autoren, könnten die westlichen Länder weiter getäuscht werden durch einen Nachfolger Putins, der, vielleicht an einer Eliteuniversität Europas ausgebildet, nur äußerlich westlicher und integrierender wirkte, hinter dessen Fassade sich jedoch der gleiche Machtanspruch die ehemalige Sowjetunion wieder entstehen zu lassen, verbirgt.

Der letzte Beitrag in dieser Textsammlung stammt von Serhij Zhadan und trägt den Titel „Wenn wir verstummen, fühlt sich das Böse sicher“.

Die Textsammlung “ALLES IST TEURER ALS UKRAINISCHES LEBEN” ist in der edition.fotoTAPETA_FLugschrift erschienen. Lesen Sie dieses Buch, verschenken Sie dieses Buch. Ein kleiner, aber wichtiger Beitrag, zumindest zuzuhören und Respekt zu bekunden.

#Werbung #Produktplatzierung #UnabhängigeEmpfehlung 

 

Print Friendly, PDF & Email
Nach oben