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HOMEOFFICE. HOFFNUNG UND REALITÄT

HOMEOFFICE. HOFFNUNG UND REALITÄT

Vertrauen ist gut. Kontrolle ist häufiger 

 

Eine aktuelle Studie wirft ein Licht auf die Erfahrungen nach etwa 1.5 Jahren im Homeoffice. Aus Improvisation zu Beginn des ersten Lockdowns wurden Erfahrung und Ernüchterung und bisweilen ein Homeoffice Blues. 

Ground Control to Major Tom

Die Lernkurve war bei allen steil. Wie sieht die Erfahrung aus, eineinhalb Jahre nachdem der erste Lockdown plötzlich für viele das Homeoffice zur täglichen Realität hat werden lassen?

Die Studie „Zwischen Vertrauen und Kontrolle“ des Marktforschungsinstituts Rheingold in Kooperation mit HAYS hat die Einstellung und Erfahrung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und deren Führungskräften mit der Arbeit im Homeoffice untersucht.

Der Grund, warum wir diese Studie mit besonderem Interesse verfolgt haben, liegt am Forschungsansatz und der Qualität des Marktforschungsinstituts Rheingold.

Der tiefenpsychologische Ansatz mit Interviews, die zum Teil 2,5 – 3 Stunden dauern, ist aus unserer Erfahrung, die von einigen HARVARD Professoren geteilt wird, der einzig valide Ansatz zu erfahren, was wirklich im Kopf und Herz der Probanden vorgeht.

 

Die positiven Veränderungen

Vier Ergebnisse werden von allen Befragten als sehr positiv bewertet:

Digitalisierung hat mehr Aufmerksamkeit im Vorstand

Viele zukunftsorientierte Projekte, die von den Befragten zum Teil schon seit Jahren vorgeschlagen wurden, aber auf Vorstandsebene wenig Beachtung gefunden hatten, haben nun eine weitaus stärkere Priorisierung und Zuteilung von Ressourcen erfahren.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Nahezu alle Unternehmen sehen dieses Thema aufgrund der Homeoffice Erfahrung (die bei vielen gleichzeitig eine Homeschooling Erfahrung war) mit weitaus größerem Realitätssinn und möchten mehr unternehmen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ihrem Unternehmen zu fördern.

Videokonferenzen haben einen Einblick in die Familienrealität erlaubt und gute Mitarbeiter sind in vielen Bereichen rar.

Die einzigen, die das noch nicht erkannt zu haben scheinen, sind Werbetreibende, die weichgezeichneten Bilder „Mutter am Laptop offensichtlich mit hoch komplexem Projekt beschäftigt und kleines Kind, andächtig auf seinen Bildschirm blickend, beide milde lächelnd” immer wieder zeigen.

Mehr Chancen für mehr Kandidaten

Die ersten Online-Runden von Interviews mit potentiellen neuen Mitarbeitern, bevor es am Ende noch ein persönliches Treffen gibt, so die Studie, hat bei vielen Unternehmen den Pool, aus dem „gefischt“ wird, größer werden lassen.

Wertschätzung der Präsenz

Wenn es wirklich wichtig ist, findet das Treffen persönlich statt. „Das machen wir jetzt als Präsenz-Treffen“ drückt die Wertschätzung aus, sich bei wichtigen und/oder schwierigen Inhalten tatsächlich auch in die Augen sehen zu können.

Der größte und wichtigste Unterschied

Gefragt danach, was Unternehmen und Mitarbeiter glauben, was für potentielle neue Mitarbeiter das wichtigste Kriterium bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber ist, geben beide unterschiedliche Prioritäten an.

Unternehmen glauben, das sei Kandidaten besonders wichtig:

49 % Vereinbarkeit von Familie und Beruf

48 % Flexibilität von Arbeitszeiten

41 % Homeoffice beziehungsweise mobiles Arbeiten

35 % Hohe Arbeitsplatzsicherheit

Werden jedoch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gefragt, worauf sie bei der Wahl von Arbeitgebern besonders achten, gibt es einen entscheidenden Unterschied in der Reihenfolge der vier wichtigsten Kriterien:

51 % Hohe Arbeitgebersicherheit

48 % Flexibilität von Arbeitszeiten

49 % Vereinbarkeit von Familie und Beruf

48 % Gesundheit und Arbeitsschutz der Beschäftigten

Quelle: „Zwischen Vertrauen und Kontrolle, 2021, Rheingold, Hays-Studie“

Hier zeigt sich die Kehrseite des Homeoffices

Das Homeoffice stellt enorme Anforderungen an Mitarbeiter und Führungskräfte. Je größer der Umfang ist, der von zu Hause gearbeitet wird, desto höher die Unsicherheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, tatsächlich einen Platz im Unternehmen zu haben.

Das bezieht sich nicht nur auf den vormals oft noch klar definierten Platz im Büro der nun immer stärker zum flexibel zu buchenden Arbeitsplatz wird, sondern drückt die Sorge um die Wertschätzung und Anerkennung der eigenen Leistung und der eigenen Person aus.

Der Aufwand für Feedback in jeglicher Form ist vielfach höher, wenn hierzu erst ein entsprechender Termin organisiert werden muss. Keine offene Tür mehr, an der man vorbeischauen könnte, kein Treffen in der Kaffee-Ecke, kein kurzes Gespräch im Gang, nicht mal ein anerkennendes Lächeln im Aufzug.

Viele Mitarbeiter machen sich lange Gedanken darüber, ob sie ihren Vorgesetzten nun gerade überhaupt ansprechen können und lassen es oft, wenn die Alarmstufe nicht Rot leuchtet.

5 min persönliche Präsenz offenbart mehr als 5 Stunden Online

Ein emphatischer Vorgesetzter kann an Körperhaltung, Stimme, KIeidung und Gang eines Mitarbeiters sehen, wie es ihm oder ihr gerade geht und nachfragen beziehungsweise unterstützen, wo es gerade nötig ist. Dazu langt oft ein kurzer Gang durch das Büro.

Die nonverbale Kommunikation, das spontane Gespräch, die persönliche Aufmunterung oder das Erkennen, dass hier zusätzliche Aufmerksamkeit notwendig ist, geht in Online-Meetings unter.

Siehe auch

Selbst die Enthusiasten unter den Homeoffice-Anhängern vermissen die Empathie am Bildschirm schmerzlich.

Produktivität managen statt kontrollieren

Diese Maxime guter Führungskräfte scheint immer rarer zu werden. Die Studie zeigt, dass eine große Anzahl von Führungskräfte die elektronischen Möglichkeiten der Arbeit am Computer schätzen und bisweilen begeistert davon sind.

Viele Mitarbeiter geben an, einen starken Druck zu verspüren, das Trackpad, die Maus, die Tastatur ihres Computers in den jeweils erforderlichen kurzen Abständen zu bedienen beziehungsweise das geschäftliche Mobiltelefon zu nutzen, bevor die Benchmark angeblicher Nichtproduktivität erreicht ist.

Die Einsicht, dass die wertvollsten Arbeitsergebnisse oft durch schlichtes Nachdenken zu erreichen sind, scheint nicht überall bekannt zu sein.

Der große Vorteile moderner Kommunikationstechnologie, auch ortsunabhängig arbeiten zu können, trifft sehr häufig auf eine eher archaische Kontrollkultur.

Das Vertrauen in die Mitarbeiter und ihre Fähigkeit und Motivation gute Ergebnisse zu erzielen, ist bei einer großen Anzahl von Führungskräften, so die Studie, nicht vorhanden.

Die Folge: „Long Homid“ nannte es eine der Studienverantwortlichen bei der Präsentation der Ergebnisse.

Fazit

Neben vielen Vorteilen, die das Arbeiten von zu Hause hat, sind auch die Gefahren für Körper, Geist und Seele nicht zu unterschätzen.

Der Begriff „remote working“ ist daher im Grunde der bessere, ehrlichere Ausdruck.

Der Begriff Homeoffice verbindet in einem Wort, was bei vielen, die sich gegen die Selbstständigkeit und für eine Funktion in einem Unternehmen entschieden haben, eigentlich nicht wollten: Ständig präsent zu sein, ohne klare Trennung zwischen Privatleben  und Beruf.

Kurzfristig ist das Dilemma nur durch größere Selbstachtsamkeit zu lösen: Bewusste Pausen, Zeiten ohne Bildschirm, Nein sagen, wenn es angebracht ist, Beruf und Privatleben auch mal zu trennen. Das ist nicht immer möglich, aber permanent verfügbar zu sein, ist keine Lösung sondern kann direkt in einen Burnout führen.

Good bye Houston

Hilft das alles bei einem Vorgesetzten der sich durch ausgeprägte Kontrollmanie statt Führungsfähigkeiten auszeichnet nicht, hilft nur eines: Sich vom Vorgesetzten zu trennen.

Eine Aufzeichnung wesentlicher Teile der Studie in Form eines Webinar können Sie hier sehen. Bisweilen hilft es zu wissen, dass man nicht allein mit seiner Homeoffice-Erfahrung ist.

Ein Proband meinte “Es kann das schlimmste Winterwetter sein – lieber ins Büro als noch länger im Homeoffice”.

So mancher, der die Weihnachtsfeiern im Unternehmen aus tiefstem Herzen hasste, sehnt sich, auch angesichts der wieder drohenden “Homeoffice-Pflicht” nach den vertrauten Ritualen des Bürolebens zurück während er oder sie in seinem Homeoffice sitzt und durch das Fenster in die Welt blickt.

 
Fotografien © GloriousMe 
 

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