Schweigen ist nur noch seltener Gold wert
Die Ereignisse in der Ukraine haben vielen zunächst im Schock die Stimme versagen lassen. Doch das Aufwachen aus dem Alptraum ist die Voraussetzung, dass er enden kann.
Alles oder nichts
In unseren westlichen Demokratien sind wir nicht von einer 15-jährigen Haftstrafe bedroht, wenn wir den grausamen Krieg, den Wladimir Putin in der Ukraine gegen die Menschen dort und gegen die Werte von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung führt, auch so benennen.
Die Redewendung „Jede Stimme zählt“ wird oft und gerne gemüht. Am 24. Februar 2022 hat sie eine neue Bedeutung erhalten. Hier geht es nicht mehr nur um Partikularinteressen einzelner Personen oder Organisationen — es geht um die Welt, in der wir zukünftig leben möchten.
Ein vielstimmiger Chor
Wer einen stimmgewaltigen Chor aus der Nähe erlebt, spürt die Bewegung und Kraft, die von der Summe der Stimmen ausgeht. Jede einzelne Stimme ist wichtig, egal auf welchem Platz.
Der Biathlet Erik Lesser hat seinen Instagram Account mit über 100.000 Follower für 24 Stunden der ukrainischen Biathletin Anastassiya Merkushyna zur Verfügung gestellt, die auf diesem Wege live aus der Ukraine berichtet hat.
Etwa 30.000 seiner Follower auf Instagram kamen zu diesem Zeitpunkt aus Russland. Einige hörten daraufhin auf, dem Spitzensportler zu folgen, viele kamen hinzu.
Als Motivation gibt er an, auf diesem Weg Biathlon-begeisterte Menschen in Russland mit authentischen Botschaften ukrainischer Sportler erreichen zu wollen. Berichterstattungen, die von russischen Medien nicht mehr gesendet werden können.
Mittlerweile hat er seinen Instagram Account und damit seine Stimme in den sozialen Medien einem ukrainischen Tennisprofi übergeben, der 24 Stunden live aus Kiew berichtet.
Kleine Randnotiz: Zum Zeitpunkt der Recherche dieses Artikels hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei Instagram 11.500 Follower. Am heutigen Tag sind es bereits 15 Millionen. Kim Kardashian folgen 290 Millionen Menschen.
Egal ob laut oder leise
Andere stimmen an öffentlichen Plätzen in Beethovens Ode an die Freude aus seiner 9. Sinfonie ein, um auf diese Weise ein Zeichen für ein gemeinsames Europa zu setzen oder sie schreiben, wie wir, ihrem Abgeordneten im Europa-Parlament.
Andere nutzen ihren Pilotenschein, um Menschen, die zu schwach für eine Flucht in überfüllten Zügen sind, in Sicherheit zu bringen.
Wir sehen viele Beispiele und können alle unsere Kreativität nutzen, um unsere Stimmen zu addieren. Egal auf welchem Weg. Einfach zur Tagesordnung überzugehen, ist in diesem Fall keine Option.
Eine Stimme mit Gewicht
Die aktuelle Lage zeigt, was Stimmen vermögen und was man davon lernen kann.
Klar, ruhig, kurz.
Die Kommunikation des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj trifft ins Mark und ist angesichts der Umstände, in denen er diese Nachrichten sendet, bewundernswert.
Auch bei anderen Stimmen aus der Politik und von Seite der Nato (wir alle hatten fast vergessen, dass die Abkürzung für North Atlantic Treaty Organization steht) spüren wir sofort, welche Kraft in der Ruhe und Kürze liegt, guten Argumenten Nachdruck verleihen.
Unerträglich wirken hingegen Politiker*innen, die versuchen überhastet so viele emotionale Metaphern wie möglich in ihren Beiträgen unterzubringen. Hier wäre an vielen Stellen Schweigen tatsächlich Gold.
Ernst und Optimismus und bisweilen eine kleine Portion Galgenhumor schließen sich bei Krisenkommunikation nicht aus, im Gegenteil, wie man an den aktuellen Instagram-Nachrichten des Box Profis Wladimir Klitschko aus der Ukraine sieht.
Aber Stimmen von Moderator*innen, die mit gleichbleibend süßlich-heiterer Stimme über den Konflikt in der Ukraine berichten, wie von einem sonnigen Ausflug an die Küste, scheinen den englischen Ausdruck „Baltic Sea“ für die Ostsee noch nie gehört, geschweige denn verstanden zu haben.
Auch im engsten Kreis zählt die Stimme
In Krisensituationen bekommt Führung eine weitere Dimension. Egal ob im Sportverein oder im DAX-Konzern.
Wie man mit einfachen Übungen an der eigenen Stimme arbeiten kann, für die nächste Videokonferenz, das nächste Bewerbungsgespräch oder das nächste wichtige Telefonat, haben wir in einem ausführlichen Artikel zur Stimme beschrieben.
Stimmen sind heute wunderbar vielfältig — das früher im Bühnenbereich so bezeichnete Rollenfach „naiv“ gibt es nicht mehr.
Im Gegensatz zu einigen anderen Staaten haben wir alle Zugriff auf vielstimmige Medien und Publikationen. Einige davon beschreiben seit vielen Jahren die Strategien Russlands und Chinas. Wir wollten ihnen nicht genug Aufmerksamkeit schenken.
Nun ist es Zeit, aufzuwachen, um mit jeder Stimme einen Beitrag zu leisten, den Alptraum in der Ukraine zu beenden und hoffentlich für viele weitere Staaten nicht zur Realität werden zu lassen.
Fotografie und Illustrationen © GloriousMe | Russischer Pavillon auf der Biennale, Venedig